Der
Fall des verschwundenen Weihnachtsbratens
T’Len
2006
Fandom: Sherlock Holmes
Kategorie:
PG
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Summe:
Wer hat den Truthahn gestohlen?
Disclaimer: Die Rechte der in dieser Fan-Story verwendeten geschützten Namen
und Figuren liegen bei den jeweiligen Inhabern. Eine Kennzeichnung unterbleibt
nicht in der Absicht, damit Geld zu verdienen oder diese Inhaberrechte zu
verletzen. Vielen Dank an Lady Charena fürs Beta.
Markerschütternd drang der Schrei durch die
vorweihnachtliche Stille. Holmes und ich, wir hatten es uns in unserem
Wohnzimmer gemütlich gemacht. Das Feuer im Kamin knisterte behaglich, während
draußen, im Dämmerlicht der Straßenlaternen, die Schneeflocken an unserem
Fenster vorbei tanzten.
Wir hatten keinen aktuellen Fall zu lösen, der uns nach
draußen trieb, und da das feuchte und kühle Winterwetter meiner alten
Kriegsverletzung nicht besonders bekam, verspürte ich auch wenig Lust, meinen
Club aufzusuchen. Lieber blieb ich in unserem behaglichen Heim und genoss den
Frieden und die Ruhe.
Selbst Holmes hatte in diesem Jahr ganz offensichtlich einen
weihnachtlichen, inneren Frieden gefunden. Normalerweise maß er den Feiertagen,
egal ob christlich oder weltlich, nur dann Bedeutung bei, wenn sie etwas mit
einem Fall zu tun hatten. Ansonsten schien der Kalender für ihn genauso wenig
zu existieren wie oft eine Uhr. Normalerweise wäre er in einer falllosen Zeit
wie dieser – unser letzter lag schon gut eine Woche zurück und ein neuer war
nicht in Sicht – auch allmählich unruhig geworden, hätte womöglich gar zum
Kokain gegriffen, um seinen ruhelosen Geist zu betäuben.
Doch diesmal schien ihm die Situation des Müßiggangs nichts auszumachen. Ich
schmeichelte mir, dass dies vor allem an meiner Person läge, besser gesagt, an
der intimen Wendung die unser Verhältnis vor einigen Wochen so langersehnt und
doch unerwartet genommen hatte. Während eines besonders heiklen Falles – es
ging um sehr persönliche Briefe die einem Herrn aus hohem Hause in arge Nöte
gebracht hätten, wären sie in falsche Hände geraten, zeugten sie doch von der
glühenden Liebe dieses Mannes zu einem jungen Geschlechtsgenossen – wagte ich
es endlich, Holmes gegenüber anzudeuten, dass auch ich dem eigenen Geschlechte
namentlich seiner Person recht zugetan war, ungeachtet meines nicht
unbeträchtlichen Rufes in der Damenwelt. Zu meiner großen Verwunderung und noch
größeren Freude fand ich bei Holmes nicht nur ein offenes Ohr und Verständnis
für meine geheime Begierde sondern auch offene Arme.
Zumindest wussten wir uns seitdem, bei aller gebotenen
Diskretion, die Zeit miteinander recht gut zu vertreiben, was sich auf Holmes’
Gemütszustand positiv auszuwirken schien. Mein Gefährte hatte sich sogar dazu
hinreißen lassen, den Mistelzweig, den Mrs. Hudson uns gebracht hatte, nicht im
Wohn- sondern in seinem Schlafzimmer aufzuhängen. Es sei nur logisch, meinte
er, ihn dort anzubringen, wo er von größtem Nutzen sei und dies sei im
konkreten Falle nun einmal das privateste unserer Gemächer. Begleitet wurde
sein Argument von leidenschaftlichen Küssen, die jeden Widerspruch meinerseits
von vornherein verboten.
An diesem späten Nachmittage also hatten wir es uns nach dem
Fünf-Uhr-Tee gemütlich gemacht. Ich saß mit einem Glas Port im Sessel nahe des
Kamins, dessen Wärme mir gut tat. Holmes stand am Fenster, beobachtete das
Schneetreiben und wohl vor allem die Menschen, die durch es hindurch eilten,
während er auf seiner Geige musizierte, Keine dieser schwermütigen Melodien,
die er so oft spielte, während er über einem Fall nachgrübelte, sondern leise,
weihnachtliche Weisen. Noch ein Zeichen dafür, wie gut es ihm momentan zu gehen
schien.
Die Musik und die angenehme äußerliche wie innerliche Wärme,
die vom Feuer und meinem Getränk ausgingen, hatten mich schläfrig gemacht und
schließlich war ich in einem leichten Schlummer hinüber gedämmert, aus dem mich
nun der Schrei so unsanft geweckt hatte.
Ich fuhr so erschrocken auf, dass ich fast das Glas Portwein
von der Sessellehne, wo ich es abgestellt hatte, gestoßen hätte, hätte nicht
Holmes die Geistesgegenwart besessen, es festzuhalten. Er stellte es auf den
Tisch ab, dann stürzte er die Treppe hinunter. Ich folgte ihm, so schnell es
mir mein Gesundheitszustand erlaubte. Der Schrei, das war unverkennbar, war aus
dem Parterre von unserer treuen Mrs. Hudson gekommen. Die offensichtlich in Not
war und unserer raschen Hilfe bedurfte.
Als ich unten eintraf, rannte Holmes gerade zur Hintertür hinaus, während ich
unsere Haushälterin fragte, was denn geschehen sei. „Ich bin bestohlen wurden“,
jammerte sie und zitterte dabei am ganzen Leibe. Ich führte sie zurück in ihre
Küche und goss erst einmal ein Glas des Cognacs ein, von dem, wie ich wusste,
sie immer einen kleinen Vorrat für besondere Notfälle im Büffet hatte. Ich drückte
sie auf einen Stuhl und das Glas in ihre Hand.
Sie nahm einen kräftigen Schluck, dann fragte ich, was denn
fehle. „Der Weihnachtsbraten“, rief sie, noch immer aufgebracht. „Der schöne
Truthahn, den ich für Mr. Holmes und Sie zubereiten wollte. Ich hatte ihn aufs
Fensterbrett gelegt. Ich war nur kurz im Keller, um Kartoffeln herauf zu holen,
als ich zurückkam, war er verschwunden.“
In diesem Moment kam Holmes wieder zur Tür herein. „Niemand
zu sehen“, sagte er.
Ich berichtete ihm, was genau fehlte. „Sonst nichts?“,
fragte er. „Kein Geld? Kein Schmuck?“
Mrs. Hudson, die sich wieder einigermaßen beruhigt hatte,
schüttelte den Kopf. „Nicht aus der Küche“, sagte sie. „Da bin ich mir sicher.“
Wir untersuchten rasch ihre Wohn- und Schlafgemächer, aber
dort war alles unversehrt.
„Seltsam“, Holmes schüttelte den Kopf. „Ich habe die ganze
Zeit am Fenster gestanden. Wäre jemand zur Haustür herein, hätte ich es
bemerkt. Außerdem war sie verschlossen. Und am Hintereingang sind keine Spuren.
Mrs. Hudson war zweifelsohne nur für wenige Minuten aus der Küche. Es schneit
nicht so heftig, dass in so kurzer Zeit bereits alle Spuren verweht sein
könnten.“
„Jemand ist durchs Fenster“, schlug ich vor.
Holmes schüttelte erneut den Kopf. „Denk doch nach, John“,
sagte er, sich nicht darum scherend, dass wir uns üblicherweise vor anderen mit
Sie und dem Nachnamen anredeten, um ja keinen Verdacht bezüglich unserer
verbotenen Gefühle für einander zu erwecken. Doch von Mrs. Hudson drohte uns
sicher keine Gefahr. Die treue Seele würde unser Geheimnis, was sie
wahrscheinlich längst zumindest erahnte, wenn nicht gar wusste, bewahren, davon
war ich überzeugt.
„Auch in dem Fall hätte ich jeden, der sich von der
Vorderseite dem Haus nähert oder sich von ihm entfernt, sehen müssen“, bemerkte
Holmes. „Und hinten müsste es Spuren geben.“
„Dann muss der Dieb noch im Haus sein“, sagte ich hastig und
alarmiert. „Vielleicht kam er vor Stunden unbemerkt herein und hat sich
versteckt, bis er zuschlagen konnte. Und jetzt wartet er auf die nächste
Gelegenheit.“
„Aber wo sollte er sich verstecken?“, erwiderte Holmes. „Im
Keller wäre er Mrs. Hudson begegnet. In ihren Räumen ist niemand und wäre er
die Treppe hoch gestiegen, bin ich mir sicher, ich hätte es gehört. Im
Gegensatz zu dir war ich die ganze Zeit hell wach.“
„Und was viel wichtiger ist“, ergänzte er. „Warum sollte er
ausgerechnet einen ungebratenen Truthahn entwenden statt Bargeld oder
Wertgegenstände? Selbst wenn ihn der Hunger auf die Suche nach etwas Essbarem
getrieben hätte, hätte er nicht eher die fertigen Plätzchen genommen?“ Holmes
deutete auf eine Schale mit Gebäck, die auf dem Tisch stand.
Nichtsdestotrotz durchsuchten wir, nachdem ich
sicherheitshalber meinen alten Armeerevolver aus meinem Zimmer geholt hatte,
systematisch und akribisch das Haus vom Boden bis zum Keller. Allerdings ohne
Erfolg. Mrs. Hudson hatte derweil die strickte Anweisung erhalten, sich nicht
aus der Küche zu rühren und die Tür zu verschließen. Als wir wieder bei ihr
ankamen, waren wir sicher, dass sich kein Einbrecher im Haus befand.
Der Fall des verschwundenen Truthahns aber blieb rätselhaft.
Holmes holte seine Lupe und begann den Fußboden der Küche zu
untersuchen, obwohl er, wie er sagte, fürchtete, dass wir alle eventuell
vorhandenen Spuren mittlerweile bereits zerstört hatten. Doch schon nach kurzer
Zeit ließ er einen triumphierenden Laut hören und hielt ein kleines Büschel
Haare hoch.
„Ich glaube, mein lieber John, wir haben bisher nach dem
falschen Delinquenten gesucht. Nach einem zwei- statt einem vierbeinigen“,
sagte er.
„Einem vierbeinigen?“, wunderte ich mich.
„Diese Haare gehören zweifelsohne zu einer Katze“, erklärte Holmes.
„Aber hier gibt es keine Katze“, sagte Mrs. Hudson. In ihrer
Stimme schwang ein Hauch von Ärger mit, als fürchte sie, wir könnten ihr
unterstellen, sie würde ein Tier in ihrer Küche dulden während sie unser Essen
richtete.
„Offensichtlich doch.“ Holmes ging wieder auf die Knie und
robbte sich langsam von der Küche zum Treppenhaus vor. Dort fand er weitere
Haare. Plötzlich streckte er seine Hand in einen schmalen Hohlraum, der sich
zwischen dem Treppenabsatz und der Kellertür befand. Ein Fauchen war zu hören,
dann richtete sich Holmes auf. In der Hand hielt er ein kleines, graues
Kätzchen, das sich zappelnd aus seinem Griff zu befreien suchte.
„Wie niedlich“, rief Mrs. Hudson und klatschte begeistert in die Hände. Das
Kätzchen mochte noch kein Jahr alt sein, wirkte recht klein und mager. Langsam
schien es sich mit seiner misslichen Lage abzufinden und hielt still.
„Ein cleverer, kleiner Kerl“, meinte Holmes, nachdem er das
Tier kurz inspiziert hatte. „Er hat es nicht nur geschafft, den großen Truthahn
vom Fensterbrett und bis hier her zu zerren, er war auch noch so schlau, ihn
erst dort zu verspeisen, wo er nicht so leicht erwischt werden würde und in
Ruhe fressen konnte, satt es sofort in der Küche zu tun.“ Ich glaubte,
Bewunderung in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
Er legte mir das Tier auf den Arm, wo es sogar leicht zu
schurren begann und sich an mich kuschelte. Ich kraulte es instinktiv zwischen
den Ohren. Holmes bückte sich erneut und brachte die Reste des Truthahns zum
Vorschein. „Und offensichtlich ein hungriger dazu“, meinte er. Viel war von
unserem Festtagsbraten nicht übrig geblieben.
„Er muss mit einem von uns herein geschlüpft sein, als wir
am Morgen getrennt ausgingen, um die letzten Geschenke zu besorgen oder Mrs.
Hudson ihre Weihnachtsbesorgungen herein brachte“, meinte ich. „Und hat sich
dann versteckt, bis sein Hunger zu groß wurde.“
Holmes kraulte das Katerchen hinterm Ohr, worauf es lauter
schnurrte. „Was machen wir nun mit dem Dieb?“, fragte er.
„Sie wollen es doch nicht wieder in der Kälte aussetzen, Mr. Holmes“, sagte
Mrs. Hudson hastig und alarmiert.
In Holmes’ grauen Augen funkelte es belustigt. „Nun, er hat
sie bestohlen, Mrs. Hudson“, sagte er. „Sie sollten also auch das Strafmaß
festsetzen.“
Mrs. Hudson nahm mir das Kätzchen ab. „Komm her“, sagte sie.
„Ich habe ein warmes Plätzchen für dich am Kamin und ein schönes Schälchen
Milch.“
Holmes blickte ihr lächelnd hinterher, während sie das Tier
in ihr Wohnzimmer trug. „Scheint so, John, als hätten wir einen neuen
Mitbewohner bekommen.“
Mrs. Hudson kam erneut zum Vorschein. „Aber was wird nun aus
dem Weihnachtsbraten?“, sagte sie. „Ich werde bis morgen kam einen neuen
Truthahn bekommen können.“
„Dann schlage ich vor“, erwiderte Holmes. „Ich lade Sie und
Watson am Weihnachtstag zum Mittagessen ein. Und für die anderen Mahlzeiten
werden Sie sicher etwas finden. Etwas weniger Aufwendiges und Spektakuläres tut
es auch.“
„Außerdem“, fügte er hinzu, als wir wieder die Treppe hinauf
zu unseren Räumlichkeiten stiegen, „Können wir ja ein bisschen von der Luft und
der Liebe leben. Nicht wahr, mein lieber John?“
Ich lachte auf, als er einen Arm um meine Schulter legte.
Ich war mir sicher, dies würde ein ganz besonderes Weihnachtsfest werden.
Ende