Titel: Der Fall des Mannes ohne Gedächtnis
Autor: Lady Charena (September 2001)
Serie: Sherlock Holmes Classic / Serie mit Jeremy Brett
Paarung: S/W, S/m
Code: NC-17, slash
Feedback: Gerne hier oder <LadyCharena@aol.com>
Summe: Sherlock Holmes wird der rätselhafte Fall eines Mannes ohne Erinnerung
zugetragen. Eine seltsame Anziehungskraft geht von dem Unbekannten aus.
Anmerkung: Diese Story gibt es in zwei Versionen. Die erste Version ist die
hier vorliegende. Die zweite Version (non-slash) wird voraussichtlich Mitte des
nächsten Jahres (2002) in dem neuen Zine "Nostalgie" der TOS-Sisters
veröffentlicht.
Die TOSTwins: Fanfiction in Deutsch und Englisch von T'Len und Lady Charena,
sowie Informationen zu allen Zines der TOS-Sisters findet ihr unter: http://tostwins.slashcity.net/
Disclaimer: Sherlock Holmes, Doktor Watson, Emma Hudson und Detective Lestrade
stammen aus der Feder Sir Arthur Conan Doyle. Eine Verwendung in dieser Story
erfolgt nicht in der Absicht, damit Geld zu verdienen, noch Inhaberrechte zu
verletzen.
Wer unter 18 ist bzw. ein Problem mit Homosexualität hat, sollte sich besser
anderswo nach passenderer Unterhaltung umsehen.
Der Fall des Mannes ohne Gedächtnis (Version A)
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Lady Charena - Sept. 01
Es war nahe an der Stunde, die Pfeife und die Zeitung beiseite zu legen, auch
das unterhaltendste Gespräch in angenehmer Gesellschaft zu beenden und sich in
Morpheus Arme zu begeben, als lautes Klopfen durch das Haus hallte, einen
späten Besucher ankündigend. Da ihre brave Hauswirtin, Mrs. Hudson, sich
bereits zurückgezogen hatte und es auch nicht ankam, ihr um diese Uhrzeit
zuzumuten, die Türe zu öffnen, begab sich Holmes selbst nach unten.
"N'Abend Mr. Holmes." Detective Lestrades gedrungene Gestalt war
selbst im nur matten Schein, der von der unfernen Straßenlaterne zum Haus
gelangte, schwerlich zu verkennen. "Ich bitte Sie, eine Störung zu dieser
späten Stunde zu entschuldigen. Aber ich denke, ich habe hier etwas, das Ihres
Interesses würdig sein mag."
Sherlock Holmes nickte leicht. "Gehe ich recht in der Annahme, dass es
sich bei diesem 'interessanten Etwas', das Sie mir offerieren, um den Gentleman
handelt, der Sie begleitet, Mr. Lestrade?", erwiderte er. Seine scharfen
Augen flogen über den schweigenden Begleiter des Detective. "Dann schlage
ich vor, wir verlegen dieses Gespräch in meine Räume, Gentlemen. Der Abend ist
kühl."
"Es ist der Nebel", meinte der bisher schweigsame Dritte plötzlich,
wie aus tiefen Gedanken heraus. Er hob den Kopf und sein Blick kreuzte
sich mit dem des Meisterdetektivs. Seine Augen zeigten das gleiche trübe Grau,
wie der Nebel, der alles um sie herum in seinen Schleier hüllte.
Holmes nickte, als hätte diese eher gewöhnliche Bemerkung über das Wetter einen
tieferen Sinn, der sich nicht jedem erschloss, bevor er zurückwich, um die
beiden späten Besucher nach oben zu geleiten.
* * *
Dr. Watson war bereits dabei, das Feuer im Kamin neu anzufachen. Er hatte wohl
seine eigenen Schlüsse aus der längeren Abwesenheit seines Freundes gezogen.
"Detective Lestrade war so freundlich, uns ein kleines Rätsel zu
offerieren, mein lieber Watson", meinte Holmes, als er in den Raum trat,
gefolgt von den beiden Männern.
Nachdem dem Ritual der Begrüßung ausgiebig Beachtung geschenkt worden war und
sich die Gäste in bequemen Stühlen mit Hilfe eines Glases Whisky am Feuer
wärmten, rieb sich Holmes unternehmungslustig die Hände. Er war als einziger
stehen geblieben. "Nun, Mr. Lestrade?"
Doch wieder Erwartens war es ihr unbekannter Besucher, der das Wort ergriff. "Detective
Lestrade hier war so freundlich, meine Entlassung aus dem Hospital zu erwirken
und mich zu Ihnen zu führen. In der vielleicht etwas zu optimistischen Meinung,
dass Sie in der Lage sein würden, mir zu helfen." Der noch junge Mann
hatte den Kopf bewegt, so dass der Schein des Feuers die Seite seines Gesichtes
beleuchtete. Eine lange, frische Narbe zog sich von der Schläfe bis fast zu
Kinn über seine Wange.
"Sie wurden überfallen, Sir? Die Verwundung an Ihrem Kopf schien mir
bereits bei Ihrer Ankunft auf eine derartige Begebenheit hinzudeuten."
Graue Augen glitten von den Flammen weg und richteten sich auf Holmes.
Bis auf die Farbe der Iris und die auffällige Narbe, war an dem Mann nichts,
das als außergewöhnlich hätte bezeichnen können. Auf den ersten Blick ein
Durchschnittsgesicht, wie man es jeden Tag auf den Straßen Londons sah. Erst
bei näherem Hinsehen gab es Rätsel auf. Nicht die groben Züge eines Bauern - es
fehlten das winzige Netzwerk an Fältchen, das die harte Arbeit und der
Aufenthalt im Freien in die die Gesichter dieser Menschen prägten. Aber auch
das Feingeistige und Weiche, das man in den Zügen eines Adligen oder Gelehrten
gefunden hätte, war nicht vorhanden. Selbst das Haar zeigte ein verschwommenes
Dunkelbraun, welches sich schwerlich einem Farbton zuordnen ließ. Auftreten und
Wortwahl ließen jedoch auf einen gebildeten Menschen schließen. Die Kleidung
war neu und nach der derzeitigen Mode, verriet also nichts über ihren Träger.
Er war von der Art Mann, die die Damenwelt für gewöhnlich als anziehend
betrachtete. Über den vollen, geschwungenen Lippen eine klassisch geformte
Nase, unter ihnen in männlich-ausgeprägtes Kinn.
"Ich wurde vor drei Wochen überfallen", bestätigte der Unbekannte
schließlich. "Zumindest haben dieses die Bemühungen der Polizei ergeben. Ich
kann dazu keine Angaben machen, da ich mich nicht erinnere." Seine Stimme
war monoton, tonlos. "Ich habe durch die Kopfverletzung mein Gedächtnis
verloren, meinten die Ärzte."
"Wir haben natürlich inzwischen alles Erdenkliche unternommen", fuhr
Lestrade an dieser Stelle fort. "Wir haben alle Vermisstenmeldungen
überprüft und sogar Auskünfte aus dem Ausland eingeholt. Jedoch vergeblich.
Auch Anzeigen mit einer Fotographie in allen großen Zeitungen blieb
ergebnislos. Niemand kennt diesen Gentleman. Deshalb habe ich ihn zu Ihnen
gebracht, Mr. Holmes."
"Ja, ich erinnere mich an die Fotographien." Holmes trat zu ihm. "Wenn
Sie gestatten?" Er griff nach dem Kopf des anderen, drehte ihn zur Seite
und zog ein Vergrößerungsglas aus der Tasche. "Diese Narbe weist eine
interessante Struktur auf."
Lestrade runzelte die Stirn. "Aber Holmes, wie können Sie das sehen? Die
Verletzung ist doch auf der anderen Seite des Gesichtes."
Der Detektiv richtete sich auf. "Ich spreche von der Narbe am Hals dieses
Mannes. Sie ist nicht frisch und könnte einen Hinweis auf seine Identität
bergen." Sein Blick kreuzte sich wieder mit dem grauer Augen.
"Mein lieber Watson, ich hätte gerne deine ärztliche Meinung dazu
vernommen", wandte er sich dann an den Arzt und reichte seine Lupe an ihn
weiter.
Der betrachtete die Haut, dicht oberhalb des Hemdkragens, mit Konzentration. "Die
Narbe wurde im frühen Kindes- oder Jugendalter beigebracht", meinte er
schließlich. "Sie ist noch mit dem umliegenden Gewebe gewachsen. Sie
scheint durch wiederholtes Zustechen mit einem dünnen, sehr spitzen Gegenstand
entstanden zu sein. Das bietet eine Bandbreite an Waffen von einem Florett bis
hin zu einem Brieföffner. Genauer lässt sich dies nicht mehr feststellen."
"Und die Form, Watson? Die Form!"
Der Arzt warf einen Blick auf den Freund. "Ich kann an der Form nichts
Besonderes feststellen, mit Ausnahme, dass die Stichwunden offenbar gezielt
angeordnet wurden, um diese zu bilden. Ich sehe nicht, wie uns das weiterhelfen
könnte, abgesehen davon dass es belegt, dass die Verwundung nicht durch einen
Unfall geschah, sondern bewusst zugefügt wurde."
Lestrade starrte auf den Detektiv. Dann auf Watson und den Unbekannten, der
seinem Blick ungerührt standhielt. "Ich verstehe nicht, dass der
Polizeiarzt dies nicht festgestellt hat, als er diesen Gentlemen auf besondere
Merkmale hin untersuchte?"
"Die Narbe ist stark verblasst. Im hellen Tageslicht muss sie fast
unsichtbar sein. Nur ein geschultes Auge - und der günstig darauf fallende
Feuerschein - erlaubten es mir, sie zu sehen", erwiderte Holmes fast
abwesend. Er schien tief in Gedanken versunken. "Ich vermute, diese Narbe
ist der Schlüssel zu Ihrer Identität."
Dann änderte sich sein Gebaren abrupt. Die tiefen Falten verschwanden von
seiner Stirn und Holmes räusperte sich. "Die wir allerdings nicht mehr in
dieser Nacht finden werden können. Ich schlage vor, wir begeben uns nun zur
Ruhe, so dass wir uns morgen all diesen Fragen mit neuer Frische widmen
können." Er wandte sich an ihren schweigenden Besucher. "Ich nehme
an, Sie haben ein Nachtquartier, Sir?"
Der andere neigte den Kopf. "Detective Lestrade war so freundlich, mir ein
Quartier in einer kleinen Pension nicht weit von hier zu vermitteln." Er
warf Lestrade einen fragenden Blick zu.
"Bei der Witwe des Schiffers Newcastle", ergänzte der
Polizei-Detective. "Mrs. Newcastle führt ein anständiges Haus."
"Ich kenne die Pension." Holmes Augen flogen über das Gesicht des
Fremden, bis sich ihre Blicke erneut begegneten. "In jedem anderen Falle
wäre es mir eine Ehre gewesen, Ihnen hier ein Nachtquartier anzubieten." Er
musste sich nicht umwenden, um das verblüffte Gesicht seines Mitbewohners zu
sehen. Für gewöhnlich war er ein sehr privater Mensch, der es ganz und gar
nicht schätzte, Fremde in seinen Räumen zu wissen.
"Ich danke Ihnen, Mr. Holmes, Doktor Watson. Für Ihre Zeit und dieses
generöse Angebot. Doch ich kann es nicht annehmen - ich werde bei Mrs.
Newcastle bereits erwartet." Der Unbekannte erhob sich und ergriff Holmes
ausgestreckte Hand. "Ich denke, mein Fall ist in Ihren fähigen Händen
bestens aufgehoben", sagte er und zum ersten Mal lag ein Hauch von Leben
in seiner Stimme.
"Ich werde Sie nach unten begleiten, Gentlemen", erbot sich Watson,
nachdem die Verabschiedung vollendet war.
Als er gleich darauf zurückkehrte, fand er Holmes tief in Gedanken in einem
sehr alten, sehr umfangreichen Buch blättern und zog sich in sein Schlafzimmer
zurück.
* * *
* * *
Geraume Zeit später klopfte es an der Verbindungstür zwischen ihren
Schlafzimmern. Watson - inzwischen in Pyjama und Schlafrock gewandet - war noch
in einen Zeitungsartikel vertieft, der sein Interesse gewonnen hatte und sah
jetzt auf. "Ja, bitte."
"Ich bitte die späte Störung zu entschuldigen." Die hochgewachsene
Gestalt seines Freundes erschien im Durchgang, die Hände in den Taschen seiner
Hausjacke vergraben.
John Watson legte die Zeitung beiseite. "Du störst nie." Er
beobachtete den Freund einige Moment lang. "Dieser Fall ist zweifelsohne
einer der Rätselhaftesten, von denen ich bisher Kenntnis erlangt habe."
"Ja, allerdings, das ist er." Der Detektiv blieb - entgegen seiner
sonstigen Gewohnheit, den bequemsten Sessel im Raum zu okkupieren - an der
kleinen Feuerstelle stehen, die den Raum mit behaglicher Wärme versorgte, den
Blick in die Flammen gerichtet.
"Ich nehme an, du hast bereits die ersten Schlüsse aus der kargen
Geschichte dieses unbekannten Gentlemans gezogen?"
Ein Schatten flog über das hagere Gesicht Holmes - vielleicht nur das Spiel der
Flammen. "Zu allererst einmal den, dass er uns etwas verschweigt. Er ist
zu ruhig."
Watson betrachtete ihn. "Ich habe während meines medizinischen Studiums
einmal einen Patienten untersucht, der durch eine Kopfverletzung, die durch
einen Unfall verursacht wurde, sein Gedächtnis verloren hatte", erwiderte
er schließlich nachdenklich. "Er war sehr ängstlich, unruhig bis aggressiv
bis hin zu einem Stadium der Raserei, das uns zwang, ihn zu betäuben. Dann
wieder fiel er in Phasen tiefer Depression. Die monotone Stimme und die
aufgesetzte Ruhe unseres rätselhaften Besuchers können Anzeichen dafür sein,
dass er depressiven Stimmungen ausgesetzt ist."
Es blieb eine Zeitlang still, bis auf das leise Knistern der brennenden
Holzscheite im Kamin.
"Hat dieser Patient sein Gedächtnis zurückerlangt?", fragte Holmes
schließlich.
"Nein, er starb zuvor an einer Lungenentzündung." Watson erhob sich
und trat neben den Detektiv, um seine Hände über der Feuerstelle zu wärmen. "Gemeinsam
mit Angehörigen und einem Pfleger besuchte er das Haus, in dem er bis zu seinem
Unfall gelebt hatte, in der Hoffnung, dass die einst vertraute Umgebung sein
Gedächtnis wachrufen könne. Als sich die Ergebnislosigkeit des Versuchs publik
machte, sollte er ins Hospital zurückkehren, um dort weiter behandelt zu
werden. Der Patient sträubte sich dagegen, entfloh seinen Begleitern und
stürzte sich von einer nahen Brücke in die Themse. Er wurde durch den beherzten
Eingriff eines Passanten und des Pflegers vor dem Ertrinken gerettet, zog sich
jedoch eine Lungenentzündung zu, an der er kurze Zeit darauf verstarb."
Er schüttelte den Kopf. "Wie auch immer - der Gentlemen, den uns Mister
Lestrade zugeführt hat - erweckte bei mir nicht so ganz den Eindruck, sein
Schicksal ähnlich drastisch zu empfinden."
"Ja", antwortete Holmes nachdenklich. "Es scheint ihn nicht zu
bekümmern, keine Identität zu haben. Ich will nicht so weit gehen, zu
behaupten, dass er uns Lügen unterbreitete - dennoch werde ich mich zu
gesitteterer Stunde mit den Ärzten, die ihn behandelt haben, in Verbindung
setzen, um einige Auskünfte einzuholen. Ich bin bereits auf einen ersten
Hinweis gestoßen, dass er nicht ganz zu sein scheint, was er vorgibt..." Er
unterbrach sich selbst. "Doch es ist noch zu früh, darüber zu
sprechen."
Holmes wandte sich dem Arzt zu. "Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich
meinem eigenen Ratschlag folge und mich zur Ruhe begebe."
"Warum verbringst du die Nacht nicht hier?"
Ein rares Lächeln glitt über die strenggeschnittenen Gesichtszüge, als sich
ihre Augen begegneten. "Wenn es dein Wunsch ist?"
"Es ist...", Watson streckte ihm lächelnd die Hand entgegen,
"...mein Wunsch."
* * *
Sein Kopf fiel zurück auf das Kissen und er schloss die Augen, als er sich
erfahrenen Händen überließ, die ihn rasch und scheinbar mühelos von seiner
Kleidung befreiten. Sein Mund öffnete sich unter sanft fordernden Lippen und er
stöhnte leise auf, als eben diese wenig später über sein Fleisch glitten.
Und doch... sein Körper blieb angespannt und seine Gedanken ließen sich nicht
zur Ruhe zwingen.
Holmes schlug die Augen auf, als die Liebkosungen plötzlich endeten.
"Deine Gedanken sind nicht bei mir, nicht in diesem Bett", meinte
John leise, das Gesicht abgewandt. "Ich sollte inzwischen wissen, dass ich
nicht in der Lage bin, mit einem derartigen Rätsel zu konkurrieren. Es tut mir
leid." Eine Hand mit langen, hageren Finger schloss sich um seine.
"Ich muss um Verzeihung bitten." Er zog ihn zu sich her und John kam
bereitwillig an seine Seite. "Wir sind vor langer Zeit übereingekommen,
dass meine Arbeit in diesem Bett keine Bedeutung hat. Doch dieses Mal..." Uncharakteristischerweise
zögerte Holmes.
Watson beugte sich über ihn, verschloss ihm mit einem zärtlichen Kuss den Mund.
"Ich verstehe", sagte er. "Wie ich auch verstehe, wenn du es
jetzt bevorzugst, allein zu sein."
Doch Holmes machte keine Anstalten, aufzustehen und in sein Schlafzimmer
zurückzukehren. "Nein", meinte er. "Wenn du es gestattest, dann
bleibe ich hier."
"Natürlich." John betrachtete ihn einen Moment lang angespannt, bevor
er sich zurücksinken ließ und die Decke über sich hochzog. Er war bald darauf
eingeschlafen.
Das Feuer im Kamin - einzige Wärme- und matte Lichtquelle des Raumes - brannte
nieder, bis schließlich nur noch die leise knisternde Glut blieb. Und noch
lange danach fand Holmes keinen Schlaf.
* * *
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* * *
Als sich die Sonne langsam durch den morgendlichen Nebel kämpfte, erwachte er -
wenig erholt. Das Bett neben ihm war leer, Holmes womöglich bereits unterwegs,
Erkundigungen einzuziehen.
Nachdem er sich gewaschen und angekleidet hatte, warf Watson einen Blick in
Holmes Schlafzimmer. Es war verlassen, bis auf ein Stück Papier, das auf dem
Bett lag. Auf ihm war eine stilisierte Darstellung der Narbe am Hals ihres
unbekannten Besuchers zu sehen. John erkannte darin Holmes Stil. Entweder hatte
er sie noch am vorigen Abend oder bereits am frühen Morgen aus dem Gedächtnis
angefertigt. Und noch immer blieb sie ohne weitere Bedeutung für ihn. Abgesehen
von der Tatsache, dass sie von einer verachtenswerten Grausamkeit sprach, mit
der man ein Kind - aus welchen Gründen auch immer - derart gezeichnet hatte. Was
immer Holmes auch darin zu sehen vermochte, er war nicht in der Lage, es ihm
gleich zu tun.
Leises Klirren aus dem angrenzenden Raum verriet ihm, dass Mrs. Hudson das
Frühstück servierte. Zu seiner Überraschung traf er dort jedoch nicht nur die
gute Seele allein an. Detective Lestrade bedankte sich gerade für eine Tasse
Tee, die sie ihm eingoss.
Watson trat zu ihnen. "Guten Morgen, Mrs. Hudson, Mr. Lestrade. Was führt
Sie um diese frühe Stunde zu uns?" Er dankte der Hauswirtin, die ihm ebenfalls
Tee eingoss und sich dann zurückzog.
"Guten Morgen, Doktor. Ich bitte, die frühe Störung zu verzeihen, doch ich
hoffte, Mr. Holmes anzutreffen. Wie mir Mrs. Hudson bereits mitteilte, ist er
schon seit dem Morgengrauen unterwegs. Da sie ihn jedoch in Bälde zurück
erwarte, gestattete ich mir, hier auf ihn zu warten, worauf Mrs. Hudson mich
mit ihrem ausgezeichneten Tee versah." Lestrade nahm wieder Platz und
nippte an seiner Tasse.
Watson nickte. Er nahm sich von dem ebenfalls vorzüglich zubereiteten Porridge,
bemerkte jedoch bald, dass der Blick des Detective immer wieder zum Fenster
glitt, als erwarte er etwas.
"Der Gentleman, den ich Ihnen am gestrigen Abend vorgestellt habe - er ist
nicht hier gewesen?", erkundigte sich Lestrade plötzlich.
"Nein, nachdem ich Sie verabschiedet hatte, erhielten wir keinen Besuch
mehr." Watson runzelte leicht die Stirn. "Darf ich mich
erkundigen...?", begann er.
"Mrs. Newcastle alarmierte mich, dass er ihre Pension schon sehr früh
verlassen hat. Das Küchenmädchen begann um 05.00 Uhr ihre Pflichten in der
Küche damit zu besorgen, dass sie das Feuer im Herd entfachte. Sie sah ihn
weggehen, als sie Feuerholz nach drinnen schaffte. Ihr ist natürlich nicht
anzulasten, dass sie keine Anstrengungen unternahm, ihn aufzuhalten. Sie
informierte jedoch lobenswerterweise ihre Herrin, sobald diese erwachte." Lestrade
wirkte besorgt. "Ich habe Mrs. Newcastle um diesen Dienst gebeten, da er
aufgrund seines Gedächtnisverlustes sehr wohl in der Lage sein dürfte, die
Orientierung zu verlieren, sollte er sich allein auf die Straßen begeben."
"Und Sie hielten es für möglich, dass er Holmes aufsuchen würde? Mrs.
Hudson hätte ihn einlassen müssen und so wäre seine Ankunft schwerlich
unbemerkt vor sich gegangen."
In diesem Augenblick waren Schritte auf der Treppe zu hören und einen Moment
später betrat Holmes in Straßenkleidung den Raum. Er begab sich schnurstracks
zum Kamin um seine Hände über den Flammen zu wärmen. "Guten Morgen, meine
Herren", grüßte er. "Was führt Sie um diese frühe Stunde zu mir, Mr.
Lestrade? Gibt es Neuigkeiten, die unseren Fall betreffen?"
Der Detective nickte trübselig. "Leider jedoch keine guten. Mein Begleiter
des gestrigen Abends ist abgängig. Er hat die Pension von Mrs. Newcastle
bereits sehr früh am Morgen verlassen. Ich hatte gehofft, er würde hier
vorstellig werden."
Einen Augenblick lang huschte Überraschung - ja fast so etwas wie Bestürzung -
über sein Gesicht, doch dann wurden Holmes Züge so impassiv, wie zuvor. "Das
ist bedauerlich. Ich kann Ihnen leider nicht mitteilen, ob dem so war, da ich
ebenfalls sehr früh das Haus verlassen habe. Mrs. Hudson und meinen werten
Freund Dr. Watson haben Sie sicherlich schon befragt?"
"Natürlich." Lestrade erhob sich. "Dann bitte ich, diese Störung
vielmals zu entschuldigen. Ich bin in Eile." Mit einer knappen
Verabschiedung verließ er den Raum.
Holmes setzte sich auf den freigewordenen Platz und schenkte sich eine frische
Tasse Tee ein. Er lachte leise, doch ohne wirkliches Amüsement. "So ist
ihm denn sein unbekannter Gentleman verloren gegangen. Wie bedauerlich."
"So schwer kann es nicht sein, einen Mann, der orientierungslos in einer
derart bevölkerten Stadt wie London herumirrt, zu entdecken und ihn in die
Obhut der Polizei zu übergeben."
Holmes blickt Watson über seine Tasse hinweg an. "Falls er denn
orientierungslos herumirrt", erwiderte er.
"John", begann er nach einer Zeitlang erneut. "Ich möchte dich
um Verzeihung bitten für meine... Unpässlichkeit... in der letzten Nacht."
"Eine Entschuldigung ist nicht notwendig", unterbrach ihn John mit
einem Lächeln. "Es ist bereits vergessen."
Und falls Holmes Zweifel an dieser Antwort hatte, zeigte er sie zumindest
nicht.
* * *
Sie beendeten das Frühstück schweigend. Mrs. Hudson brachte die Morgenzeitung
und nahm dafür das gebrauchte Geschirr mit sich.
"Ah, sehr gut", meinte Holmes. "Dann wollen wir einmal sehen, ob
die Information, die mich einen goldenen Sovereign kostete, auch diesen Preis
wert war." Er blätterte hastig durch die Seiten, offenbar auf der Suche
nach einem bestimmten Artikel, hier und dort die Schlagzeilen überfliegend.
Watson sah von seiner eigenen Lektüre auf. "Eine Information? Unseren
unbekannten Gentlemen betreffend?"
"Ja", kam es abwesend von Holmes. "Ich habe heute Morgen bereits
einige meiner Quellen bemüht, um mehr über ihn herauszufinden."
Der Arzt verzog leicht das Gesicht. Er kannte einige dieser
"Quellen", von denen Holmes sprach und hatte mehr als einmal für eine
dieser zwielichtigen Gestalten in einem schmutzigen Hinterhof oder einem
düsteren, feuchten Kellerraum Erste Hilfe geleistet. Und doch war es ihnen
vergönnt, Holmes nahezu jede Information zu besorgen, an die auf andere Weise
nicht heranzukommen war. Vorausgesetzt, die Entlohnung entsprach ihren
Vorstellungen. Zwar betrachtete er sich selbst als einen aufgeklärten Menschen,
doch die Gesellschaft dieser Männer, die ihren Lebensunterhalt mit Erpressung,
Diebstahl, Prostitution und Opiumhandel finanzierten, erfüllte ihn mit tiefem
Unbehagen. Um so mehr, als Holmes sich in ihrer Gegenwart wohl zu fühlen
schien. Ja, John spekulierte sogar, dass manche dieser fragwürdigen Gentlemen
in der Vergangenheit auch andere Dienste als nur das Zutragen von Informationen
für Holmes unternommen hatten, wie einige zum Teil doch sehr intime Bemerkungen
belegten...
"Hier ist der betreffende Artikel", unterbrach Holmes Stimme seine
Gedanken. "Ohne den Hinweis hätte ich ihm aller Voraussicht nach keine
große Bedeutung zugemessen." Er schien den Artikel zu überfliegen, warf
dann die Zeitung auf den Tisch und sprang unruhig auf, um sich dann in sein
Schlafzimmer zu begeben.
Watson legte seine eigene Zeitung weg und vertiefte sich in die beiden
aufgeschlagenen Seiten. Doch er konnte keinen Artikel finden, der einen
Zusammenhang zum Fall es Gentlemans ohne Gedächtnis aufzuweisen schien. Ein
Bericht über den Tod eines Lords in seinem Altersitz in Schottland, der sich
leider während der Hochzeitsfeier seines einzigen Sohnes ereignete (die Braut
war die Tochter eines bekannten Londoner Bankiers, weshalb dieser unglückselige
Zwischenfall überhaupt eine Erwähnung fand) ein Artikel über eine
Hundeausstellung im Osten der Stadt und einer ausführlichen Beschreibung des
Siegers auf der ersten - sowie einige Stellungnahmen zur wirtschaftlichen Lage
des Landes auf der zweiten - Seite.
Er hob den Kopf, als Holmes zurückkehrte - er hatte sich umgezogen und trug in
der Hand ein Nachschlagwerk, sowie eine handgezeichnete Landkarte. "Ah,
wie ich sehe, hast du inzwischen selbst die betreffenden Zeilen studiert."
Der Arzt wies auf die beiden Seiten. "Ich sehe bei keinem der hier
aufgeführten Artikel einen Zusammenhang mit diesem Fall."
Holmes begann in etwas in dem dicken Buch nachzuschlagen und nickte dabei in
Richtung der Zeitung. "Derek Carnshaw, der vierte Lord von Lowler, der im
Garten einer Herzattacke zum Opfer fiel, während im Haus das Hochzeitsmahl
eingenommen wurde, hatte nicht nur diesen einen Sohn."
Watson überflog den Artikel nochmals. "Davon wird hier nichts
erwähnt."
"Dieser jüngere Sohn erkrankte - vor fünfzehn Jahren - im Alter von zwölf
an einer rätselhaften Virusinfektion, die trotz aller ärztlicher Bemühungen zu
seinem Tod führte. Auf Anraten der Ärzte wurde sein Leichnam sowie sämtliche
Gegenstände, mit denen er während seiner Krankheit in Berührung gekommen ist,
verbrannt. Aufgrund des ungeklärten Risikos einer Infektion wurde auch keine
Autopsie vorgenommen. Lady Carnshaw erholte sich von diesem Schicksalsschlag
offenbar nur sehr schwer. Sie verließ London und zog sich in das besagte
Schloss in Schottland zurück, das sie von einem entfernten Verwandten geerbt
hatte. Dort in der Abgeschiedenheit baute sie ein Waisenheim auf und kümmerte
sich auch selbst um die Kinder, die sie dort aufnahm. Ihr Gatte folgte ihr erst
vor wenigen Wochen dorthin, nachdem sein ältester Sohn seine Verlobung bekannt
gegeben hatte." Holmes Antwort klang wie aus dem Who-is-who der Londoner
High Society zitiert, wo er es vermutlich auch nachgeschlagen hatte. Holmes war
- schon aus beruflichen Gründen - stets über die Schicksale, Skandale und
Skandalchen dieser Persönlichkeiten im Bilde und zudem mit einem phänomenalen
Gedächtnis gesegnet.
"Ich sehe aber noch immer nicht, was das..."
"Die Frage ist nun" - es war offensichtlich, dass Holmes ihn nicht
gehört hatte - "was erschreckte den Lord derart zu Tode? Zwar behandelte
ihn sein Arzt seit Jahren wegen eines Herzleidens, doch das war keineswegs
derart akut, wie ich den Unterlagen der Anhörung entnehmen konnte, die ich
heute Morgen bereits eingesehen habe. Er hatte noch viele Jahre vor sich, um
das Heranwachsen seiner Enkelkinder zu erleben." Mit dieser letzten,
ungewohnt prosaischen Bemerkung fiel Holmes ins Schweigen zurück. Den Blick
hinaus in den grauen, regnerischen Oktobermorgen gerichtet, schienen seinen
Gedanken sehr viel weiter weg zu weilen.
Watson begnügte sich daher damit, sich in die Lektüre der restlichen Zeitungen
zu vertiefen.
Holmes erhob sich aus seinem Sessel und trat an das Fenster. Er sah Mrs. Hudson
das Haus verlassen, in der Hand ihren Einkaufskorb, auf dem Weg zum Markt. Dann
fiel sein Blick auf einen Gentleman, der sich auf der gegenüberliegenden
Straßenseite aufhielt. Als wisse dieser Passant um die Augen, die auf ihm
ruhten, wandte er den Kopf. "Unser unbekannter Besucher ist der jüngste
Sohn des Lords, von dem uns glauben gemacht wurde, er wäre tot", bemerkte
Holmes leise. Dann wandte er sich abrupt ab und seinem Freund zu.
"Ich verstehe nicht, worauf diese Vermutung basiert? Abgesehen davon, dass
der junge Mann, der in Detective Lestrades Begleitung bei uns war, in ungefähr
dem gleichen Alter entspricht, wie der Sohn des Lords aufweisen würde, wäre er
noch am Leben." Watson runzelte die Stirn.
"Wie wahrscheinlich hältst du es aus ärztlicher Sicht, dass ein Mann über
mehr als drei Wochen hinweg vorgeben kann, sein Gedächtnis verloren zu
haben?", erkundigte sich Holmes weiter, ohne auf diese Fragen einzugehen.
Watson blickte ihn überrascht an. "Nun, diese Person müsste sehr
entschlossen sein und über eine überdurchschnittliche Beherrschung verfügen, um
sich nicht zu verraten", erklärte er schließlich. "Und womöglich auch
schauspielerische Fähigkeiten vorweisen. Diagnostizieren lässt sich ein
Gedächtnisverlust ja nur über die Aussagen und Reaktionen des Patienten, es
gibt keine körperlichen Symptome. Eine Kopfverletzung muss nicht unwillkürlich
zu einem kompletten oder partiellen Verlust von Erinnerungen führen." Er
zögerte. "Hältst du es für möglich, dass er nur vorgibt...?"
"Ja, allerdings." Holmes trat zu ihm und legte eine Hand auf seine
Schulter. "John, ich möchte dich um einen Gefallen bitten."
Die Augen des Arztes suchten sein Gesicht ab. "Natürlich."
"Ich erwarte einen Besucher, der zur Bedingung gemacht hat, allein mit mir
zu sprechen."
"Selbstverständlich werde ich mich so lange in mein Schlafzimmer
zurückziehen."
"Eigentlich möchte ich dich darum bitten, deinem Club für einige Stunden
einen Besuch abzustatten."
Watson sah zu ihm hoch. "Wer ist dieser Besucher?", erkundigte er
sich leise.
Holmes griff in die Tasche seiner Hausjacke und nahm einen Zettel heraus. "Dieser
Brief war in die Zeitung gesteckt. Ich nahm ihn unbemerkt an mich, während du
in deine Lektüre vertieft warst." Er reichte ihn an den Arzt weiter.
Er war adressiert an Mr. Sherlock Holmes. Keine Anrede, keine Unterschrift. "Ich
bitte darum, Sie heute Vormittag aufsuchen zu dürfen, um unser Gespräch über
den Nebel fortzuführen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn dies unter vier
Augen geschehen könnte", las der Arzt laut vor. "Ein Gespräch über
Nebel?", fragte er und ließ die Mitteilung sinken. "Was hat das zu
bedeuten?"
"Ich habe eine bestimmte Ahnung, aber..." Holmes hob die Hand, noch
bevor Watson nachfragen konnte. "Aber es ist noch zu früh, darüber zu
sprechen."
Der Arzt wirkte nicht überzeugt. "Das ist alles sehr merkwürdig." Er
erhob sich. "Ich werde also meinen Club aufsuchen. Aber ich möchte doch
darum bitten, dass du mir nach meiner Rückkehr diesen Fall offen legst."
"Das werde ich sicherlich", erwiderte Holmes und trat wieder zum
Fenster.
* * *
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Einige Minuten, nachdem Doktor Watson die Wohnung in der
Baker Street 221 B verlassen hatte, läutete es. Da Mrs. Hudson noch nicht
zurück war, öffnete Sherlock Holmes wie am Abend zuvor selbst.
"Ich habe Sie erwartet", sagte er nur.
Der andere nickte und trat ein, als Holmes den Platz an der Tür freigab. Er
folgte ihm schweigend nach oben und legte seinen Mantel ab, stellte sich dann
an die Feuerstelle, um seine vom Regen feuchte Kleidung zu trocknen.
Holmes blieb einige Schritte von ihm entfernt. "Sie sind Alexandre
Carnshaw."
Der andere drehte sich zu ihm um und verneigte sich leicht. Er wirkte nicht
überrascht. "Wie ich sagte, ich wusste, dass mein Fall in Ihren Händen gut
aufgehoben sein würde, Mr. Holmes", meinte er ironisch. Anders als am
Vorabend war sein Gesicht nun mit Leben erfüllt. "Ich werde Jasper
anweisen, Ihnen Ihre Auslagen zurück zu erstatten. Er ist ansonsten ein
verlässlicher Diener meiner Familie, aber ich habe den Verdacht, er redet zu
viel, wenn er etwas trinkt."
Holmes winkte ab. "Ich habe die Information nicht von Ihrem Diener, eure
Lordschaft", erwiderte er sarkastisch. "Obwohl ich mich gelegentlich
dazu gezwungen sehe, ist es nicht immer mein Stil, trunkene Dienerschaft
auszuhorchen. Ich habe diese Information von jemandem, der sich ihrer Börse
bemächtigte. Jemand, der mir diese Information nur sehr ungern verkaufte, da er
glaubte, sie bei Ihnen zu barer Münze machen zu können. Allerdings ersparen Sie
mir mit Ihrem Besuch einen Gang zu Ihren Ärzten."
Carnshaw lachte und setzte sich in den gleichen Stuhl wie am Vorabend. "Bitte
nennen Sie mich Carnshaw - oder gleich Alexandre. Ich bin es nicht gewohnt, mit
einem Titel angesprochen zu werden, den ich ausschließlich mit meinem Bruder in
Verbindung bringe. Ihr Erpresser hätte wenig Freude an mir erlebt, ich besitze
nichts."
Holmes nahm ihm gegenüber Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. Er
erlaubte sich ein dünnes, ironisches Lächeln. "Es war allseits bekannt,
dass Sie der Erbe eines sehr beträchtlichen Vermögens mütterlicherseits
sind. Der Vater Ihrer Mutter hat sein Geld dem Zweitgeborenen Sohn seiner
Tochter vermacht, da er das englische Erbsystem von Titel und Vermögen an den
Erstgeborenen als ungerecht empfand."
"Geld, das nach meinem "Tod" ebenfalls meinem älteren Bruder
zugefallen ist. Es würde meinem Großvater das Herz brechen", meinte
Carnshaw sarkastisch. "Ich frage mich, wie er zu einer britischen Ehefrau
kam, wo er als Franzose eigentlich alles Englische ablehnte."
Der Detektiv ging darauf nicht ein. "Weshalb wurde dieses Märchen um Ihren
Tod gesponnen? Um sich Ihres Erbes zu bemächtigen?"
Alexandre lehnte sich zurück. "Meine Mutter war eine blutjunge
Schauspielerin, als mein Vater - der Lord - sie heiratete. Eine Geschichte wie
aus der Klatschspalte, nicht wahr? ‚Älterer Adliger von junger, raffinierter
Schauspielerin umgarnt und in die Falle gelockt.‘ Tatsache ist, dass meine
Mutter sehr behütet in Frankreich in einem von Nonnen geleiteten Internat
aufgewachsen ist. Schauspielerin zu werden - und das im Geburtsland ihrer
Mutter - war ein Akt der Rebellion gegen ihren übermächtigen Vater, der das
Leben seiner einzigen Tochter fest im Griff hatte. Die Bekanntschaft mit
'Seiner Lordschaft' wurde von der in London lebenden Verwandtschaft arrangiert.
Der Lord benötigte Geld - und mein Großvater wurde stolzer Angehöriger des
britischen Hochadels. Somit waren beide Seiten zufriedengestellt. Meine Mama
fand sich - von Kindesbeinen auf Gehorsam gedrillt - rasch in ihr Leben als
treusorgende Gattin und bald auch als Mutter ein. Und bildete zusätzlich eine
attraktive Gastgeberin für alle gesellschaftlichen Anlässe, die das Leben in
London so mit sich brachte. Unsere Mutter liebte uns beide Kinder
gleichermaßen, doch mein Vater bevorzugte seinen Erstgeborenen stets."
Er lachte und strich sich mit einer jungenhaften Geste das Haar aus dem
Gesicht. "Ich trage ihm keinen Gram nach, jetzt, wo ich erfahren habe,
dass er tot ist. Meine Mutter versuchte an mir gut zu machen, was mein Vater
mir versagte und bekam den Vorwurf zu hören, dass ich 'verzärtelt' werden würde
- da sie mehr Wert darauf legte, meine Bildung zu fördern, als mich auf die
Jagd zu schicken. Aber ich sehe, Mr. Holmes, meine Lebensgeschichte beginnt sie
zu langweilen", meinte er, obwohl der Detektiv kein Anzeichen für eine
solche Vermutung gegeben hatte. "Kommen wir also direkt zu meinem
"Tod". Ich war zwölf, mein Bruder neunzehn. Und mein Vater hatte
durch erhebliche Misskalkulationen den größten Teil seines durch - die Heirat
erworbenen - Vermögens bereits wieder verloren. Da begab sich, dass mein
Großvater starb, sein Geld jedoch nicht seiner Tochter, sondern mir hinterließ.
Leider wurde das Vermögen jedoch treuhänderisch von einem Anwalt in Paris
verwaltet, bis ich die Volljährigkeit erreichte. Nur im Falle meines Todes
würde das Geld an meine Mutter fallen. Mein Vater ging nun zwar nicht so weit,
mir den Tod an den Hals zu wünschen, doch ich wusste, dass ich mich von einem
ungeliebten Nachzügler zu einem lästigen Übel entwickelt hatte. Er gab sich
wirklich redlich Mühe, nun doch noch väterliche Gefühle für mich zu entwickeln,
um mich mit der Volljährigkeit leichter um mein Erbe zu bringen. Doch ich
zeigte mich Widerspenstig. Seine Wut darüber ließ er meine Mutter spüren. Sie
kam schließlich auch mit dem Plan auf, dem Treuhänder glauben zu machen, ich
wäre gestorben, so dass das Geld ihr zufalle und sie damit den Vater
besänftigen konnte. Es funktionierte auch - zu gut sogar. Das hohe Fieber, dass
irgendwelche Mittelchen herbeigeführt wurde, hätte mich beinahe wirklich
getötet. Nur das Eingreifen meiner Mutter, die mich auf das Schloss in
Schottland schaffen ließ, rettete mein Leben. Während ich dort rasch genas,
erklärte man mich in London für tot und begraben und meine gramgebeugte Mutter
verließ ihren herrischen Ehemann, nachdem sie ihm mein Vermögen übergeben
hatte. Es stellte sich eine unerwartete Schwierigkeit ein - als ich aus dem
Fieber erwachte, erkannte ich niemanden. Die Frau, die sich meine Mutter
nannte, war mir fremd und obwohl sie mich liebevoll versorgte, blieb sie für
mich eine Fremde und zwar die ganzen fünfzehn Jahre bis zu ihrem Tod vor vier
Wochen.“
Hier unterbrach er sich zum ersten Mal und schwieg einen Moment. „Sie starb
zwei Tage, nachdem mein Bruder seine Verlobung bekannt gegeben hatte“, fuhr er
dann fort. „Und kurz bevor mein Vater in Schottland ankam – sonst hätte ich ihn
verdächtigt, etwas damit zu tun zu haben. Doch sie war wohl schon seit langer
Zeit krank...“ Er starrte einen Moment lang ins Feuer. „Das Kinderheim wird
weiterbestehen, sie hat dies bereits vor langer Zeit so verfügt. Es trägt sich
durch eine Stiftung. Niemand dort wusste, wer ich bin – mit Ausnahme meiner
Eltern und meines Bruders und einer alten, närrischen Kinderfrau, die mich
großgezogen hatte und im Waisenheim ihr Gnadenbrot bekam. Die Verlobte meines
Bruders nun... sie kommt aus reichem Hause, was ihnen einiges über die
finanzielle Situation meiner Familie sagen dürfte. Sie ist sehr romantisch
veranlagt und wollte ihre Hochzeit unbedingt in dem alten Schloss feiern. Da es
angeblich dem Wunsch meiner Mutter entsprach, dass keine Trauerzeit eingehalten
wurde, fand die Trauung – wie ich aus der Zeitung erfahren habe – inzwischen
bereits statt. Das arme Mädchen.“ Er verstummte ganz.
Holmes räusperte sich. „Wie kam es dann, dass Sie in London überfallen wurden?“
„Zu den Hochzeitsfeierlichkeiten wurde eine große Anzahl Gäste aus London
erwartet, auch aus dem Kreis meiner Verwandten. Mein Vater fürchtete, jemand
könnte mich erkennen und schickte mich stattdessen in Jaspers Begleitung in die
Stadt, unter dem Vorwand, ich solle nun auch das Leben in einer Großstadt
kennen lernen. Dann kam ein Londoner Taschendieb und machte fünfzehn Jahren des
Vergessens zunichte. Als ich im Hospital erwachte, erinnerte ich mich an meine
Kindheit, an meinen „Tod“ und an die Jahre, die ich als angebliches Waisenkind
verbrachte hatte – unter der Obhut meiner eigenen Mutter. Viele Zusammenhänge
wurden mir plötzlich klar. Und zum ersten Mal hatte der Name, bei dem ich immer
gerufen wurde – Alexandre – eine Bedeutung.“
„Und trotzdem spielten Sie die Rolle des Mannes ohne Erinnerung weiter“, wandte
Holmes trocken ein. „Aus welchem Grund?“
„Ich war so verwirrt, es gab so vieles, über das ich mir klar werden musste –
dass ich einfach weiter leugnete, zu wissen wer ich sei. Es war nach all den
Jahren nicht so schwierig, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.“ Carnshaw
blickte ihn an. „Ich war bei den anderen Kindern sehr beliebt, weil ich in jede
Rolle schlüpfen konnte. Meine Mutter hat mir ihr Schauspieltalent vererbt.“ Er
lächelte.
„Und welche Rolle spielen Sie nun, Mr. Carnshaw?“, fragte Holmes hart. „Das
arme Opfer?“
„Nennen Sie mich doch bitte Alexandre.“ Er lachte und erhob sich dann. Carnshaw
trat zu Holmes und stützte sich mit beiden Händen auf der Armlehne des Sessels
auf, in dem Holmes saß. Er beugte sich vor, bis nur noch wenige Zentimeter ihre
Gesichter voneinander trennten.
Holmes wich nicht zurück. Er saß reglos, erhob nur fragend eine Augenbraue.
Alexandre sah ihn an. „Im Moment...“, meinte er seiden, „...im Moment scheine
ich die gleiche Rolle zu spielen, wie Sie, werter Holmes. Den Ignoranten.“
„Wie haben Sie Ihren Vater getötet, Alexandre?“, entgegnete der Detektiv leise.
„Ich habe eine Nachricht an Jasper aus dem Hospital geschmuggelt – oder sagen
wir, ich habe sie schmuggeln lassen. Eine junge Krankenschwester ist rasch
bezirzt. Und Jasper hat die Botschaft meinem Vater überbracht. Ich teilte ihm
nur mit, dass ich meine Erinnerungen zurück erlangt habe und jetzt das mir
zustehende Vermögen meines Großvaters fordere.“ Er zuckte geringschätzig mit
den Schultern. „Ich konnte nicht ahnen, dass ihn das so aufregen würde, dass er
eine Herzattacke bekommt.“
Holmes schüttelte den Kopf. „Ich glaube Ihnen nicht. Sie wussten bestimmt, dass
er herzkrank war.“
„Wie hätte ich das wissen können?“
„Von Ihrer Mutter.“
„Mama war eine sanfte, stille, liebevolle Frau. Sie hätte eine große Karriere
als Schauspielerin vor sich gehabt, aber zwei Männer zerstörten sie – mein
Großvater nahm ihr die Freiheit und mein Vater in letzter Konsequenz das Leben.
Sie starb an gebrochenem Herzen, an der Einsamkeit und der Verachtung, die ihr
von ihrem Ehemann entgegen gebracht wurde. Aber sie hat mich nie gegen ihn
aufgehetzt. Sie hätte es nicht gekonnt.“ Alexandres graue Augen schienen nun
von einem inneren Feuer erhellt. „Aber sprechen wir nicht von mir, sprechen wir
von Ihnen, Mr. Holmes.“
„Ich denke, dieses Gespräch ist jetzt beendet.“ Holmes begegnete seinem
herausfordernden Blick ohne Furcht.
„Gut – genug der Worte, der Phrasen, der Schauspielerei.“ Alexandre beugte sich
vor und presste seine Lippen gegen die des Detektivs. Nur einen Moment, dann
wich er wieder zurück. „Ich habe heute Morgen selbst einige Erkundigungen
eingeholt. Wie einfach es doch war, sich wieder an die Orte zu erinnern, die
einem kleinen, neugierigen Jungen verboten wurden. Wie wenig sie sich doch
verändert hatten. Noch immer stehen junge Männer am Ende der Upper Street, dort
wo die Straßenbeleuchtung endet und kein Bobby sich sehen lässt. Noch immer
fahren manche Kutschen an diesen Orten langsamer und decken ihre Laternen ab. Und
wenn sie sie dann wieder aufblenden und an Fahrt zunehmen, ist - wie ein Wunder
- einer der Männer verschwunden. Wie oft habe ich mich als Junge unbemerkt auf
eine der Kutschen geschwungen und bin unbemerkt mitgefahren. Besonders gerne im
Sommer, wenn es nicht regnete und die Kutsche dann oft irgendwo in einer verlassenen
Sackgasse oder unten an der Themse anhielt und ein Fenster geöffnet wurde. Ich
habe dort vieles gelernt. Wie heute Morgen. Ich habe interessante Dinge über
Sie erfahren, Holmes.“
„Gerüchte, die von der Straße stammen“, entgegnete der Detektiv wegwerfend. „Welche
Bedeutung hat das schon.“
„Über Sie und... gewisse... Neigungen im Allgemeinen – und über Ihre Beziehung
zu Ihrem Mitbewohner im ganz besonderen“, fuhr Alexandre fort.
„Verleumdungen. In meiner Position muss ich mit so etwas rechnen.“
„Tsk, tsk, tsk, mein lieber Holmes, wie kommt es nur, dass es mir so schwer
fällt, Ihnen zu glauben? Liegt es vielleicht daran, dass ich Sie gerade geküsst
haben und Sie keine Einwände hatten?“
„Ich war überrascht. Es hat nichts zu besagen.“
„Überrascht? Ja, das war ich auch. Über diese Anziehungskraft zwischen uns
beiden. Wäre dieser begriffsstutzige Polizist und Ihr Anhängsel...“
„John ist kein Anhängsel!“, protestierte Holmes, doch ein Zittern hatte sich in
seine Stimme eingeschlichen.
„Wie auch immer“, fuhr Alexandre fort. „Wären sie nicht hier gewesen, dann
hätte mich nichts davon abgehalten, mein... Nachtquartier... hier
aufzuschlagen.“
„Sei‘ still!“
„Welchen Sinn hat es, sich gegen etwas zu wehren, dem wir im Ende doch
unterlegen werden?“ Alexandre beugte sich wieder vor und presste erneut seine
Lippen gegen Holmes.
* * *