Titel: Saowen
Autor: Lady Charena
Fandom: Beauty and the Beast
Pairung: Vincent, Vater, Brigit O’Donnell
Rating: gen
Beta: T'Len
Archiv: ja
Summe: Die irische Schriftstellerin Brigit O’Donnell kehrt nach New York zurück
und Vincent trifft sich mit ihr. Doch erneut wird ein Anschlag auf ihr Leben
verübt. Fortsetzung zu der Episode „Die Nacht der Masken“ (auf Grundlage der
Romanfassung von Ru Emerson)
Disclaimer: Die Rechte der in dieser Fan-Story verwendeten geschützten Namen
und Figuren liegen bei den jeweiligen Inhabern. Eine Kennzeichnung unterbleibt
nicht in der Absicht, damit Geld zu verdienen oder diese Inhaberrechte zu
verletzen.
Der alte Mann blieb zögernd am Eingang zu Vincents Kammer stehen und
beobachtete einen Moment lang schweigend seinen Adoptivsohn.
Finger mit langen, furchterregenden Nägeln, eher Krallen zu nennen, kitzelten
das Baby unter dem Kinn, dann das kleine, runde Bäuchlein. Jacob quietschte
entzückt, seine kleinen Fäustchen griffen nach den langen Haarsträhnen seines
Vaters.
Ein flüchtiges Lächeln – fast nur ein Schatten - glitt über Vincents
fremdartige Löwenzüge.
Der alte Mann sah es trotzdem und verspürte einen Anflug von Erleichterung.
Vincent dieser Tage – wenn auch nur für einen Moment - zum Lächeln zu bringen,
das schaffte nur sein kleiner Sohn Jacob.
„Bist du gekommen, um deinem Enkel Gute Nacht zu sagen, Vater?“
Vincents tiefe, ruhige Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. „Das
natürlich auch“, meinte Vater und trat neben ihn. Er berührte leicht die
weiche, warme Stirn und Wange des Kindes, das seinen Namen trug.
Dann wich er wieder zurück und beobachtete, wie Vincent seinen Sohn sanft
hochhob und ihn in die Wiege legte, die Mouse zusammen mit Cullen, dem
Schnitzer gebaut hatte. Cullen hatte Kopf und Fußteil mit einer zierlichen
Schnitzerei verziert, die Rosen darstellte. Sie wirkten im weichen Licht so
echt, dass man fast glaubte, sie würden duften...
Die Wiege ersetzte den Korb, in dem Jacob die ersten Wochen und Monaten
geschlafen hatte und der inzwischen zu klein für ihn geworden war. Mary, die
Hebamme, die schon Vincent großgezogen hatte, steuerte die Kissen und eine
warme, handgefertigte Decke bei. Überall in Vincents Kammer fanden sich Geschenke
der Tunnelbewohnern. Sara, die Kerzenzieherin, hatte ein Duzend feinster Kerzen
gefertigt, die gleichmäßig abbrannten, ohne zu Qualmen oder zu tropfen und die
Augen des Babys nicht reizten. Ein paar der Tunnelkinder hatten von ihren alten
Spielsachen gebracht. Jamie und ein paar der anderen Mädchen hatten sich unter
Marys Anweisung daran versucht, Kinderkleidung aus Woll- und Stoffresten zu
fertigen. Aufgeregt miteinander tuschelnd waren sie dann erschienen, hatten das
Baby in seiner neuen Wiege bestaunt und fast ehrfürchtig berührt.
Obwohl immer wieder Kindern in den Tunneln geboren wurde, war Vincents Sohn
etwas besonderes. Und Vincent hatte alle Geschenke freundlich und dankbar
angenommen. Doch ohne Freude.
Die Augen des alten Mannes richteten sich wieder auf das Gesicht seines Sohnes,
der nun zärtlich durch das feine, schimmernde Haar des Kindes strich - nicht
blondbraun, wie Catherines gewesen waren, sondern hell und rotgolden
schimmernd, wie Vincents Mähne...
„Du kannst es mir nicht ausreden, Vater“, sagte Vincent leise. „Ich werde
gehen.“
Sein Vater blickte auf das aufgeschlagene Buch, das auf dem Sofa am Kamin lag,
auf den Umschlag, der wie ein Lesezeichen eingesteckt war. Vor drei Tagen hatte
einer der Helfer das Paket, auf dem nur Vincents Name stand, zu ihnen gebracht.
Es beunruhigte ihn, nicht zu wissen, wie diese Frau an Namen und Adresse des
Helfers gekommen war – vielleicht hatte Catherine sie ihr gegeben, er wusste
von Vincent, dass sie die Schriftstellerin noch einige Male getroffen hatte,
bevor diese New York verließ. Vincents Unvernunft bereitete ihm augenblicklich
jedoch noch weit mehr Sorge.
„Du willst wirklich dieses Risiko eingehen?“ Tiefe Sorge lag in Vaters leisen
Worten. „Sie weiß offenbar, wer du bist und wo du lebst. Und wenn sie damals
erkennen konnte, dass du kein Kostüm trägst, werden das andere auch.“
Vincent richtete sich aus seiner gebückten Haltung über der Wiege auf. Jacob
schlief nun.
„Brigit O’Donnell ist eine besondere Frau. Sie wird mich nicht verraten.“
Er hatte es nicht über sich gebracht, wieder die gleichen Kleider zu tragen wie
damals. Statt der Samthose trug er nun eine Hose, die ihm eine der Frauen aus
Lederstücken in Patchwork gefertigt hatte. Nur der breite Gürtel, der das
schlichte, graue Hemd an seinen Körper schmiegte, war der gleiche, wie auch die
hohen Stiefel mit den weichen Sohlen. Er besaß keine anderen. Dann nahm er den
schweren, dunklen Umhang auf und legte ihn um seine Schultern. Sorgfältig
arrangierte er die Kapuze, die sein Gesicht zumindest teilweise verhüllen
würde.
„Und sie hätte mich nicht erkannt, wäre ich nicht gezwungen gewesen, Brigit
und... und... vor diesem Mörder zu schützen.“
Vincent brachte es nicht über sich, Catherines Name auszusprechen, doch Vater
kannte das Geschehen des Halloweenabends vor drei Jahren so gut wie er. Zum
ersten Mal in seinem Leben hatte Vincent damals versucht, an etwas teilzuhaben,
das für andere Menschen so völlig normal war – auf eine Party zu gehen. Wenn er
dies auch weniger tat, um sich zu amüsieren, sondern um die irische
Schriftstellerin Brigit O’Donnell kennen zu lernen, deren Bücher Vincent
gelesen und die ihn sehr beeindruckt hatten.
Halloween und eine Kostümparty schienen das Ganze zu erleichtern, da davon
auszugehen war, dass jeder, der nicht zu genau hinsah, sein Aussehen für ein
sehr raffiniertes Kostüm halten würde. Und Vincent hatte nicht beabsichtigt,
sich dort so lange aufzuhalten, bis jemand auf die Idee kommen würde, ihn
genauer zu betrachten. Doch nicht nur böse Geister trieben in dieser magischen
Oktobernacht ihr Unwesen – auch Menschen, die nichts anderes im Sinn hatten,
als Leid über andere zu bringen. So war alles ganz anders gekommen...
Seufzend wandte der Ältere seine Gedanken von der Vergangenheit ab. Doch wie
damals wurde ihm auch heute das Herz vor Sorgen schwer.
„Vincent - ich freue mich, dass du wieder an die Oberfläche willst.“
Seit Catherines Tod, seit Vincent seinen Sohn zurückgeholt hatte, war er im
dunklen Herzen der Tunnel geblieben, in den tiefsten Kammern. Nicht einmal die
übliche Patrouille der peripheren Eingänge im Central Park – und der daher
besonders gefährdeten - Bereiche hatte er vorgenommen, obwohl er diese Aufgabe
in der Vergangenheit stets selbst durchgeführt hatte. Als wäre jeder noch so
geringe Kontakt mit der Welt da oben, die ihm so viel genommen hatte, zu
schmerzhaft, um ihn zu ertragen.
Aber da Vater selbst die Frau, die er liebte, verloren hatte, drängte er
Vincent nicht. Aber die Zeit, die alle Wunden heilt, schien Vincent nicht zu
helfen. Mit Catherine war ein Teil von ihm gestorben und nicht einmal Jacob
konnte diesen ganz ersetzen.
„Aber muss es ausgerechnet diese eine Nacht sein, in der so viele Menschen
unterwegs sind? Wenn sie so verständnisvoll ist, wie du sie ansiehst, dann wird
sie auch zustimmen, dich an einem weniger gefährlichen Ort zu treffen. In ihrem
Hotel beispielsweise. Es gibt sicherlich einen Tunnel oder Ausstieg in der
Nähe.“
Vincent nahm die Lederhandschuhe, die auch seine Hände maskieren würden und
wandte sich seinem Vater zu. „Hin und wieder müssen wir unsere sicheren
Schlupfwinkel verlassen und mit leeren Händen zu unseren Feinden gehen“,
zitierte er leise aus Brigits Buch. „Das gilt noch immer, Vater.“
Er wandte sich halb von ihm ab, um einen Blick auf seinen Sohn zu werfen.
„Jamie wird auf Jacob acht geben, solange ich weg bin. Aber vor dem Morgen bin
ich auf jeden Fall zurück.“ Dann wandte er sich wieder seinem Vater zu. „Brigit
ist nur für diese beiden Tage in New York, um ihr neues Buch vorzustellen,
bevor sie nach Irland zurückkehrt. Sie hat Termine und diese Nacht ist die
einzige Möglichkeit, zu der wir uns treffen können. Und auf der Straße, unter
all den kostümierten Menschen bin ich vor Entdeckung am sichersten.“
„Und wenn du sie hierher bringst?“ Noch war Vater nicht bereit, aufzugeben – so
ungern er eine Fremde in den Tunneln hatte. Es wäre immer noch besser, als
Vincent irgendwo da draußen in Gefahr zu wissen.
„Das ist nicht möglich.“
Vincent streifte die Handschuhe über. Das weiche Leder schmiegte sich wie eine
zweite Haut über seine Finger und nahm ihnen das fremdartige,
furchteinflößende. Diese Hände sind schön, hörte er die Stimme der
Vergangenheit flüstern. Nein! Vincent schloss die Augen und drängte die
Erinnerung zurück. Diese Nacht barg schon zu viel Trauer, zu viel schmerzliche
Gedanken, er wollte sich nicht noch selbst verletzen, in dem er sich bewusst
erinnerte.
„Sie muss noch immer beschützt werden und es dürfte nicht leicht sein, ihren
Leibwächtern zu erklären, warum sie mit mir in einen Tunnel klettert.“ Er
blickte Vater an. Zum ersten Mal seit langer Zeit erfüllte wieder ein Anflug
des früheren Glanzes die aquamarinfarbenen Augen. „Bitte versuche, mich zu
verstehen.“
Die Augen des alten Mannes musterten ihn. „Warum gerade sie?“, fragte er dann.
„Du wolltest niemanden von oben sehen, mit niemandem sprechen. Weder mit Lisa,
die aus Buenos Aires gekommen ist, noch mit diesem Joe Maxwell oder Elliot
Burch. Warum mit einer Fremden?“ Ein Schatten, nicht von den leicht flackernden
Kerzen erzeugt, huschte über Vincents Gesicht. Es entging Vater nicht. „Es tut
mir leid, Vincent, ich wollte nicht...“
Sein Sohn schüttelte den Kopf. „Sie ist keine Fremde für mich. Keiner von ihnen
kann mich so verstehen, Vater, wie Brigit es kann. Sie hat das gleiche erfahren
müssen wie ich. Du hast Dreihundert Tage gelesen. Damals und heute, als ihre
Nachricht kam. Du kennst ihre Geschichte. Ich muss sie sehen, sie fragen...“ Er
verstummte, das Gesicht zur Seite gewandt. Sein langes Haar verdeckte seine
Züge.
„Was fragen, Vincent?“, erkundigte sich der alte Mann leise.
„Wie man... weiter und immer weiter leben kann mit diesem Schmerz.“ Es war nur
ein Flüstern, so leise, dass es fast in den ewigen Geräuschen – fast wie ein
Herzschlag - der Tunnel unterging. „Wie man jeden Morgen die Kraft findet,
wieder auf zu wachen, wenn nur Träume die Vergangenheit zurückbringen.“
Schweigen füllte den Raum zwischen ihnen. Nicht zum ersten Mal erfüllte Vater
die bittere Einsicht, dass er angesichts dieses Schmerzes hilflos war. Er hätte
alles darum geben, ihn Vincent abnehmen zu können.
Es war kein Vergleich zu seiner stillen, ruhigen Trauer um seine eigene,
einstige Frau Margaret. So schmerzvoll ihr Tod für ihn auch gewesen war, sieben
gemeinsame Tage hatten fünfunddreißig Jahre der Trennung nicht ungeschehen
machen können. Die Zeit, seine Pflichten gegenüber der Gemeinde und nicht
zuletzt Margarets Tapferkeit, ihre ruhige Akzeptanz ihrer Krankheit und ihres
Sterbens, hatten es ihm leichter gemacht, sie am Ende gehen zu lassen. So sehr
er sie geliebt hatte - zwischen ihm und seiner Frau gab es niemals ein so enge
Band. Vincent hingegen hatte stets gespürt, was Catherine fühlte – eine der
Facetten seines fremdartigen Wesens, Segen und Fluch zugleich...
Er trat zu seinem hochgewachsenen Sohn, stellte sich auf die Zehenspitzen, um
ihm die Hand auf die Schulter legen zu können. „Dann geh“, sagte er leise.
„Aber sei’ vorsichtig.“
Vincent sah auf und berührte die Hand seines Vaters. „Danke“, erwiderte er nur.
Vater wies mit dem Kopf zum Ausgang. „Ich werde bei Jacob bleiben, bis Jamie
kommt. Lass’ Brigit nicht warten.“ Er sah Vincent nach, als dieser nach einem
letzten Blick auf seinen schlafenden Sohn die Kammer verließ.
Die weichen Sohlen seiner Schuhe verursachten keinerlei Geräusch auf dem
ausgetretenen Stein. Seufzend hinkte der alte Mann zu dem Sessel am Kamin und
nahm das Buch auf, das Brigit geschickt hatte. Er betrachtete es einen
Augenblick, schlug es dann zu, den Umschlag als Einmerker nutzend und setzte
sich. Er hoffte aus ganzem Herzen, dass sein Junge sicher sein würde.
* * *
Anders als vor drei Jahren hielt sich Vincent in den schützenden Schatten, von
denen der Central Park genug bot. Er eilte an der Stelle vorbei, an der dieser
Mann – er hieß Michael McPhee, wie Vincent später erfahren hatte – Brigit
auflauerte, um sie zu töten. Der gleichen Stelle, an der sie nur Augenblicke
zuvor über den Preis der Liebe gesprochen hatten.
Er zögerte nur einen Moment, als er den Park verließ. Der gleiche beißende Wind
wie damals trug die gleiche Kakophonie an Gerüchen und Lauten zu seinen
empfindlichen Sinnen – doch dieses Mal erlebte er sie nicht mit Staunen, sie
ließen ihn völlig unberührt, als er die Straßen entlang eilte. Er zog sich in
einen Hauseingang zurück, als direkt vor ihm eine Frau über die Straße eilte,
ihr Parfum wehte wie ein unsichtbarer Schleier hinter ihr her und reizte ihn
zum Niesen.
Brigit erwartete ihn an dem kleinen Brunnen, der den Vorplatz des Hotels
schmückte, in dem sie während ihres Aufenthaltes in New York wohnte. In
diskreter Entfernung saß Thomas Cavanaugh, ihr Wächter, auf den Stufen einer
kleinen Treppe, neben ihm ein anderer Mann, der Vincent unbekannt war.
Cavanaugh stand wachsam auf, als Vincent plötzlich aus den Schatten auftauchte.
Doch mit ihm sah Brigit O’Donnell auf und winkte ihm zu. Selbst auf die
Entfernung von mehreren Metern konnte Vincent das Misstrauen des Leibwächters
spüren. Der andere Mann dagegen schien ihn nur erstaunt zu mustern.
Brigit streckte ihm beide Hände entgegen, als er den hellerleuchteten Vorplatz
überquerte und zu ihr trat. „Vincent. Ich bin so froh, dass du kommen
konntest.“
Vincent drückte sanft ihre kleinen Hände, zog eine davon an seine Lippen. „Es
ist schön, dich zu sehen, Brigit.“
Sie war in eine prachtvolle Robe, einer Königin gleich, gekleidet, die sie
weitaus zerbrechlicher erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Darüber trug
sie einen dunklen Dufflecoat, der sie vor der Kälte der Oktobernacht schützte.
Sie blickte ihn lange an und ihre klaren Augen in dem dezent geschminkten
Gesicht schienen durch ihn hindurch bis in seine Seele zu blicken. „Lass’ uns
gehen“, sagte sie. „Ich fühle mich hier nicht wohl. Thomas hat uns eine Kutsche
besorgt. Man sagte mir, dass sei die einzige angenehme Art, New York in einer
solchen Nacht zu besichtigen.“ Ihr Blick teilte ihm mit, was sie nicht sagen
konnte, um ihren Leibwächter nicht noch misstrauischer zu machen.
Mit einem Lächeln hängte sich Brigit bei Vincent ein und sie gingen an
Cavanaugh und dem zweiten Wächter vorbei, die Treppe hinab. Vincent spürte ihr
Zögern, als sie den ihm unbekannten Mann passierten und nahm sich vor, sich
später danach zu erkundigen. Er war froh über die Schatten, die die Kapuze
schuf und so Cavanaugh kein klarer Blick auf sein Gesicht möglich war.
Zwei unterschiedliche Gefühle strömten von dem Leibwächter aus, so deutlich,
als wären sie mit Leuchtschrift an den nächtlichen Himmel geschrieben – Liebe
und Misstrauen. Letzteres bezog sich auf ihn und ermöglichte es ihm, Brigit so erfolgreich
zu schützen – es hatte nach Erscheinen ihres neuesten Buches weitere Anschläge
auf ihr Leben gegeben. Und die Liebe, die er zu Brigit O’Donnell empfand,
verhinderte, dass sein Misstrauen jemals nachlassen würde. Vincent fragte sich,
ob Brigit davon wusste...
Die Kutsche wartete auf dem Parkplatz des Hotels. Das Pferd hob den Kopf, als
es Vincents fremdartige Witterung wahrnahm und scharrte wiehernd mit dem
Vorderhuf. Der Kutscher warf der kleinen Gruppe einen erstaunten Blick zu und
fragte sich, was zum Teufel in seine Mähre gefahren war.
Der zweite Leibwächter überholte sie am Fuße der Treppe und überprüfte den
offenen Platz, während Thomas Cavanaugh dicht bei ihnen stehen blieb. Erst als
der andere Mann ihnen von der entgegengesetzten Seite des Parkplatzes aus
zunickte, gingen sie zur Kutsche.
Als das Pferd erneut scheute als Vincent vorbeiging, zogen sich Thomas
Cavanaughs Brauen nachdenklich zusammen.
Vincent half Brigit galant in die offene Kutsche und folgte ihr dann. Cavanaugh
schwang sich schwerfällig auf den schmalen Sitz neben dem Kutscher auf dem
Bock, der zweite Leibwächter kletterte auf ein Brett am Heck der Kutsche, das
in früheren Zeiten sicherlich einmal für Pagen gedacht war.
Langsam setzten sie sich in Bewegung. Und erst, als sie auf die Straße
einbogen, begann Brigit zu sprechen. „Ich habe Freunde in New York, die mich
auf dem Laufenden halten“, sagte sie leise.
Sie berührte Vincents Arm und er schloss die Augen, denn er wusste nur zu gut,
was nun kommen würde.
„Es tut mir so leid, Vincent.“
Er empfand es als Gnade, dass sie ihren Namen nicht aussprach. „Vielleicht
hätte ich damals auf den Rat hören sollen, den du mir gabst.“ Seine Stimme war
tonlos und er sprach ohne Überzeugung.
Ein bitteres Lächeln spielte um ihre Lippen. „Ich bin froh, dass du es nicht
getan hast“, entgegnete sie. „Meine Ratschläge sind nicht die allerbesten.“
Vincent warf ihr einen Seitenblick zu. „Du kannst das nicht ernst meinen. Deine
Worte sind stets voll Weisheit.“
„Weisheit...“, wiederholte Brigit. Dann schüttelte sie den Kopf, wie um einen
bösen Traum zu vertreiben. „Eine Weisheit, die offenbar niemand hören will. Es
hat sich nichts geändert, Vincent. Nichts. Ich bin es müde.“ Sie verstummte
einen Augenblick. „Erzähl’ mir von dir. Wie geht es dir?“
Eine Frage, die ihm immer und immer wieder gestellt wurde. Und auf die er keine
Antwort wusste. „Ich komme zurecht“, sagte er leise und ohne sie anzusehen.
„Die Gemeinde braucht mich. Und ich habe meinen Sohn Jacob.“
Brigit nickte. Ihr Blick war auf die Häuser gerichtet, an denen sie in rascher
Fahrt vorbei glitten. „Ich frage mich, ob es einfacher für mich wäre, hätten
Ian und ich Kinder gehabt“, erwiderte sie. Sie fragte nicht, also wusste sie
auch darüber Bescheid. Es war einen Moment still. Dann wandte sie sich wieder
ihrem Begleiter zu. „Warum bist du gekommen, Vincent?“, fragte sie. „Ich war
mir nicht sicher, dass du es tun würdest.“
Vincent stellte fest, dass es ihm schwer fiel, ihrem Blick stand zu halten. Wie
sollte er ihr von dem Gefühl der Beunruhigung, der Ahnung drohender Gefahr
berichten, die er beim Lesen ihrer Nachricht empfunden hatte. Seit sie sich
getroffen hatte, war es intensiver geworden. Vincent entschied sich für den
schwersten oder einfachsten Weg - die Wahrheit. Seine Fragen konnten warten.
„Brigit, gibt es jemanden, der dich bedroht?“
Etwas blitzte in ihren Augen auf, erlosch jedoch genau so rasch wieder. „Nicht
mehr, als sonst“, entgegnete sie eine Spur zu leichtfertig.
„Warum hast du Angst?“
Sie zuckte zusammen. „Es ist Saowen, die magische Nacht“, erwiderte sie heftig.
„Ich lasse sie mir nicht von einem unguten Gefühl verderben.“
Vincent sah sie nur an und schließlich senkte sie den Kopf. „Ich... habe das
Gefühl, einen Verräter unter meinen Leibwächtern zu haben. Thomas habe ich
nichts davon gesagt.“ Sie blickte auf und in ihren Augen lagen Wärme und Angst
im Streit um die Oberhand. „Er reibt sich ohnehin auf vor Sorge um mich.“
„Er liebt dich.“
Brigit bewegte die Hand, als wollte sie diesen Einwand wegwischen. „Ich weiß.
Er ist ein guter Freund.“
„Wen verdächtigst du?“, fragte Vincent weiter.
Sie saßen entgegen der Fahrtrichtung und als sich Brigits Blick auf das Heck
der Kutsche richtete, war das Antwort genug.
„Kevin beunruhigte mich vom ersten Moment an. Etwas an seinem Blick...“, fuhr
sie leise fort. „Ich kann es nicht beschreiben. Es liegt etwas seltsam
lauerndes in seinen Augen.“
Sie stoppte erneut. „Seit er da ist, gab es innerhalb von sechs Monaten zwei
Anschläge auf mich, die verrieten, dass die Täter intime Kenntnisse über mein
Leben und meinen Tagesablauf hatten. Einmal war es Thomas’ rasche Reaktion,
einmal pures Glück, dass sie missglückten. Aber ich muss mich irren. Es kann
nicht sein“, beharrte sie.
„Warum nicht?“
Brigit blickte ihn an. „Er ist Thomas jüngster Bruder.“
Ihr Widerwille mit ihrem treuen Beschützer zu sprechen, stellte sich nun
natürlich in ganz anderem Licht dar. Vincent blickte auf den Mann, der vom Heck
der Kutsche verborgen wurde, dessen Anwesenheit er aber deutlich spürte. „Was
wirst du tun?“, fragte er.
Birgit zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie unglücklich.
„Ich hoffe, mich zu irren.“
Sie schwiegen lange, versunken in eigene Gedanken, während sie durch die
hellerleuchteten Straßen fuhren, vorbei an Menschen, die ebenfalls unterwegs
waren.
Das Gefühl der Bedrohung verdichtete sich. Vincent nahm es wie eine schwarze
Decke wahr, die über ihnen lag. Ein Blick auf das blasse, angespannte Gesicht
von Brigit verriet ihm, dass sie es ebenfalls spürte. Beruhigend ergriff er
ihre Hand. Seit Blick glitt wachsam über die Straßen, die sie passierten.
An einer Kreuzung mussten sie einige Minuten warten, da eine lachende Gruppe
Kinder in bunten Kostümen die Straße überquerte. Sie wurden von einigen
Erwachsenen begleitet, die Mühe hatten, sie zusammen zu halten.
Vincents scharfe Ohren fingen ein Kratzen auf, das vom Boden der Kutsche her
erklang, ohne erklären zu können, was es war. Er legte den Kopf schief und
lauschte – doch als sie weiterfuhren, hörte er nichts mehr. Er beobachtete
Brigit, die hingerissen ein farbenprächtig dekoriertes Haus betrachtete. Sie
hatte für einen Moment die Bedrohung vergessen, die über ihnen hing.
Als sie in eine weniger belebte Straße einbogen, wandte sich Brigit ihm zu,
wollte lächelnd etwas bemerken, doch kein Wort kam über ihre Lippen, als sie
seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
Ein scharfer Geruch stach in Vincents Nase, den er seltsamerweise mit Mouse,
dem Bastler, in Verbindung brachte. Er schloss die Augen und durchforschte
seine Erinnerung. Als er es zum ersten Mal roch... hatte er Schmerzen, da waren
noch andere Gerüche – Dieselqualm, Staub... Geröll und ein eingestürzter
Tunnel. Das Labyrinth! Es erinnerte ihn an den Tag, als er und Vater
verschüttet wurden und Mouse Plastiksprengstoff benutzte, um sie frei zu
sprengen. Den Sprengstoff hatte Cathe... Er brach den Gedanken ab. Eine
Bewegung am Heck lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. Kevin Cavanaugh war von
der langsamer werdenden Kutsche abgesprungen und entfernte sich rasch. Hinter
sich hörte er Thomas überrascht fluchen und nach dem Kutscher rufen, der
offenbar plötzlich vom Bock gesprungen war. Der Ire griff offenbar nach den
Zügeln und brachte das Pferd zum Halten, denn abrupt stoppte die Kutsche.
Vincent reagierte instinktiv, stieß die Tür auf und zog Brigit mit sich, ohne
auf ihren erstaunten Ausruf zu achten. Die nächste Straßenbiegung war circa
einhundert Meter entfernt und auf sie hielt Vincent zu. Thomas folgte ihnen
fluchend und brüllend.
Sie hatten sie fast erreicht, als die Kutsche explodierte.
Vincent warf sich vorwärts und um die Straßenecke, von der Druckwelle der
Explosion getragen, zog Brigit an sich und drehte sich im Fallen, so dass sie
auf ihm landete, als sie auf den Boden prallten. Er rollte sich sofort herum,
um sie mit seinem Körper abzuschirmen.
Es blieb still, keine weitere Detonation ertönte. Dicht neben Vincent rappelte
sich Thomas Cavanaugh hoch und schüttelte benommen den Kopf. Sobald er sein
Gleichgewicht wiedergefunden hatte, stieß er Vincent beiseite und betrachtete
besorgt Brigit, die sich leise stöhnend aufsetzte. Er kniete neben sie und
hielt sie fest, während er Vincent anstarrte, der inzwischen wieder sicher auf
den Beinen stand und die Straße absuchte.
„Wer zum Teufel bist du?“, fragte er heiser. „Ich habe noch niemanden gesehen,
der sich so rasch bewegen konnte, wie du das gemacht hast.“
Brigit befreite sich sanft aus dem Griff ihres Leibwächters und lenkte ihn so
ab. „Was ist passiert?“, fragte sie leise.
Vincent kauerte sich neben sie. „Jemand hat eine Bombe an der Kutsche
angebracht.“
„Das ist unmöglich“, protestierte Thomas. „Ich habe sie selbst kontrolliert.“
„Sie war nicht dort, als wir losgefahren sind“, entgegnete Vincent. „Ich habe
den Sprengstoff zum ersten Mal nach unserem Stopp an der Kreuzung wahrgenommen.
Dieses Kratzen, das ich gehört habe, muss entstanden sein, als die Bombe
befestigt wurde. Ich erinnerte mich an den Geruch, ich wusste nur nicht sofort,
um was es sich handelte.“
Thomas starrte ihn misstrauisch an, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen
zusammengepresst.
„Riechen? Kein Mensch kann Plastiksprengstoff riechen“, sagte er langsam.
Hinter Brigits Rücken tastete er nach der Waffe in seinem Achselholster.
Glücklicherweise hatte er sie beim Aufprall auf den Boden nicht verloren. „Für
mich klingt das eher, als wären wir in eine Falle getappt. Und dein Freund hier
wusste davon.“
Brigit spürte die Bewegung und griff nach seiner Hand. „Stopp, Thomas. Vincent
hat damit nichts zu tun. Wenn er nicht so rasch reagiert hätte, wären wir
niemals rechtzeitig von der Kutsche weggekommen.“
Thomas Augen weiteten sich plötzlich. „Die Kutsche“, stieß er hervor. „Kevin
muss noch dort sein.“ Er sprang auf – doch Vincent hielt ihn zurück.
„Er ist unverletzt, ich sah ihn in die Richtung laufen, aus der wir gekommen
sind.“
Brigit nickte Thomas bestätigend zu, der sich merklich entspannte und den Arm
rieb, wo Vincent ihn festgehalten hatte. „Dann taucht er sicher gleich hier
auf.“
Vincent blickte ihn an. „Thomas, er sprang von der Kutsche, bevor wir
anhielten“, sagte er überraschend sanft.
Die Augen des Leibwächters verdunkelten sich vor Zorn. „Oh nein, nicht Kevin“,
stieß er wütend hervor. „Kevin hat damit nichts zu tun. Er ist mein Bruder.“ Er
schüttelte den Kopf. „Dieser verdammte Kutscher ist abgehauen, der hatte was
damit zu tun, aber nicht Kevin. Er hat bestimmt irgendwas gesehen und ist
deshalb abgesprungen.“
„Warum ist er dann noch nicht zu uns zurückgekehrt?“, beharrte Vincent.
Cavanaugh starrte ihn an. Er presste die Lippen zusammen.
Brigit hob den Kopf, als das Heulen von Sirenen zu vernehmen war. „Du musst
gehen“, wandte sie sich an Vincent.
Der nickte und zog die Kapuze hoch. „Ich werde in der Nähe bleiben.“ Damit
wandte er sich ab und eilte in eine schmale Gasse, die in wenigen Metern
Entfernung abzweigte. Hinter sich hörte er Cavanaugh sagen, dass er auf diese
Erklärung sehr gespannt sei. An einem der Gebäude in der Gasse gab es eine
Feuerleiter, über die er aufs Dach gelangte. Von hier aus hatte Vincent die
gesamte Straße im Blick, ohne selbst gesehen zu werden.
Von dort oben beobachtete er die Ankunft von Polizei, Feuerwehr und einem
Krankenwagen. Jemand fing das Pferd ein, das offenbar unverletzt geblieben war,
während die Feuerwehr die Reste der Kutsche löschte. Es fanden sich
Schaulustige ein, doch die Polizisten zerstreuten sie rasch wieder. Er sah
Brigit beim Krankenwagen stehen, jemand legte ihr eine Decke um die Schultern
und brachte ihr einen Becher. Thomas erklärte inzwischen dem Detective, was
passiert war. Zwei Stunden verharrte er auf dem Dach, bis die Polizei mit der
Spurensicherung fertig war und die Feuerwehr die Reste der Kutsche von der
Straße abtransportierte.
Brigit und Thomas stiegen in ein Taxi – das allerdings nur einen Block weit
fuhr, bevor seine Fahrgäste ausstiegen und in ein Café gingen, das an diesem
Abend geöffnet hatte. Dort blieben sie, bis Polizei und Feuerwehr daran
vorbeifuhren.
Und dann kehrten sie langsam zu Fuß zurück.
Vincent tauchte lautlos aus den Schatten auf, als Thomas und Brigit um die Ecke
bogen. Sofort stellte sich der Leibwächter vor Brigit. Als er sah, um wen es
sich handelte, nahm er die Hand vom Holster. „Verdammt“, murmelte er und wandte
sich ab.
Brigit warf Vincent einen Blick zu und eilte dann Thomas nach. Sie legte ihm
die Hand auf die Schulter. „Thomas. Nichts von dem, was heute Nacht geschehen
ist, ist deine Schuld.“
Der Leibwächter drehte sich langsam um, sein Gesicht war versteinert. „Ich
würde dir raten, ins Hotel zurück zu kehren, Brigit. Und zwar auf dem
schnellsten Weg.“
„Nein“, wiedersprach ihm die Schriftstellerin energisch. „Das werde ich nicht,
dass habe ich dir bereits gesagt. Ich werde mir diese Nacht nicht nehmen
lassen.“ Sanfter fuhr sie fort: „Du wirst zurück gehen.“ Thomas wollte
aufbegehren, doch sie legte ihm rasch einen Finger auf die Lippen. „Vincent
wird auf mich aufpassen, mach’ dir keine Sorgen. Ich denke, wir haben für heute
nichts mehr zu fürchten.“
Der Blick des Leibwächters glitt zwischen ihr und Vincent hin und her.
Plötzlich sackten seine breiten Schultern nach unten. Er trat zu Vincent. „Wenn
ihr etwas zustößt...“, meinte er drohend.
„Ich werde sie mit meinem Leben schützen“, versprach Vincent. Er streckte die
Hand aus und Thomas Cavanaugh ergriff sie zögernd. Dann wandte er sich
ruckartig um und verschwand.
* * *
Vincent und Brigit spazierten schweigend durch die hellerleuchteten Straßen,
durch die feiernden, fröhlichen Menschen. Sie wussten nichts von den dunklen
Seiten dieser Nacht und Vincent beneidete sie um ihre Unschuld.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er seine Schritte in eine bestimmte Richtung
gelenkt hatte. Wenig später standen sie vor einem schmiedeisernen Tor.
Birgit sah ihn an, nickte. Das Tor war verschlossen, doch es gab eine kleine,
versteckte Pforte, durch die Vincent sie führte.
* * *
Frische Blumen zierten das Grab, vermutlich hatte Kim Baskerville, die
ehemalige Lebensgefährtin von Catherines verstorbenem Vater, sie gebracht. Fast
täglich kam sie am frühen Abend hierher, Vincent hatte sie oft aus einem
Versteck beobachtet.
Langsam, fast schwerfällig, kniete er sich vor dem Grab in das feuchte Gras,
sich nicht um Kälte und Nässe kümmernd, die durch seine Kleidung sickerten.
Vermutlich nahm er sie nicht einmal wahr. Seine rechte Hand grub sich in den
lockeren Boden. „Wenn es Jacob nicht gäbe, wäre ich ihr längst gefolgt“,
flüsterte er erstickt. Er sah Brigit an und seine klaren Augen waren voll Qual.
„Es wird nie aufhören, weh zu tun, nicht wahr?“ Er klang hoffnungslos.
Und Brigit hätte so gerne etwas tröstendes gesagt, doch sie konnte ihn nicht
belügen. Ihr Mann Ian war schon seit mehr als fünf Jahren tot, aber noch immer
erwachte sie schreiend und tränenüberströmt aus Alpträumen, in denen sie wieder
und wieder erlebte, wie sein Auto in die Luft flog. Nein, es hörte nie auf. Die
Zeit würde den Schmerz lindern, aber ihn nie ganz auslöschen können.
Statt dessen kniete sie neben ihn, legte die Hände auf seine Schultern – und
als er sich ihr zuwandte, zog sie ihn an sich, drückte sein Gesicht gegen ihre
Brust. Sie spürte seinen Atem durch den dünnen Stoff, stoßweise, gequält.
„Lass‘ es los“, sagte sie, fast ohne zu wissen, dass sie sprach. Das Gesicht in
sein weiches Haar gepresst, um ihre eigenen Tränen zu verbergen. „Lass‘ es los,
ich bin hier, ich bin da. Ich halte dich fest.“
Und das tat sie. Sie umklammerte seinen Kopf, als ein gewaltiger Schauer durch
seinen Körper lief. Als ein gequälter Schrei, voll Schmerz, voll Wut wie eine
Flutwelle aus Vincent herausbrach. Und er letztlich um Catherine weinen konnte.
Ende