Titel: Dilemma
Serie: Martha Grimes‘ Inspector
Jury Romanreihe
Autor: Lady Charena / Feb.
2003
Charaktere: Melrose Plant, Richard Jury, Alfred
Wiggins, Ruthven, andere Charaktere
Rating: pg12, slash
Worte: 3191
Beta: T’Len
Summe: Inspektor Jury fährt nach Ardry
End. (Fortsetzung zu Kamingespräch #1 und #2 – angesiedelt vor „Mord
in Ardry End“.)
Disclaimer: Bei dieser Story handelt sich um nicht-kommerzielle Fanfiction, es
wird keine Verletzung von Urheberrechten beabsichtigt. Die Charaktere wurden
von Martha Grimes geschaffen.
Das Telefon klingelte. Jury legte einen Arm quer über die Mappe, in der er
gerade gelesen hatte und griff mit der nunmehr freien Hand blindlings nach dem
Apparat. Seine Finger gingen jedoch ins Leere. Irritiert sah er auf.
Zum wiederholten Mal war Wiggins - im fruchtlosen Bemühen, seinem Vorgesetzten
Arbeit abzunehmen – förmlich über den Tisch gehechtet, um sich den Hörer vor
ihm zu schnappen.
Er hasste es, wenn Wiggins das tat - hasste es, weil es ihn ein klein wenig
verlegen machte. Als wäre es eine ungeheuer störende Sache, einen Anruf
entgegen zu nehmen. Dabei hatte er im Moment nichts gegen eine kleine Störung.
Racer nutzte die Flaute an Gewaltverbrechen in den
letzten beiden Tagen, um Jury einen fast einen Meter hohen Stapel an Akten über
Danny Wu zustellen zu lassen – ein Fall, an dem Jury im Wechsel mit seinen
Kollegen des Drogendezernats seit über zehn Jahren arbeitete. Erfolglos. Danny
Wu gehörte zu London wie Big Ben und genau wie der war auch Danny Wu
unangreifbar.
Er winkte Wiggins ungeduldig, der gerade einen ausführlichen Bericht über seine
Gesundheit – es war in der Tat genau das richtige Wetter für den Flug der
Weizenpollen – abschloss.
Unwillkürlich abgelenkt überlegte Jury, wie sich Weizenpollen bis nach London
verirren konnten. Mit wem zum Teufel telefonierte er?
Nahezu nahtlos war Wiggins inzwischen bei der Beschreibung eines Hundes
angekommen, der erst kürzlich seinem Cousin Gerald – der Wiggins-Clan
überraschte doch immer wieder, offenbar gab es einen Wiggins ohne Haustierallergie
– weggelaufen war. Hund? Ah, Hund!
Jury beugte sich über den Schreibtisch und nahm seinen Sergeant den Hörer weg. „Melrose?“
Wiggins schickte einen tödlich beleidigten Blick in seine Richtung, bevor er
aufstand und sich demonstrativ am Wasserspender in einer entfernten Ecke des
Raumes zu schaffen machte.
Jury nahm sich vor, sich als Abbitte die Geschichte des Hundes detailliert
schildern zu lassen. Später. Viel später. Irgendwann. Vielleicht.
„Hallo, Richard.“
Eventuell lag es nur an der Entfernung und daran, dass Stimmen am Telefon immer
ein wenig anders... und fremder... klangen, aber etwas irritierte ihn. „Wie
geht es dir?“
Eine kurze Pause folgte. „Gut. Vielleicht solltest du diese Frage besser deinem
Sergeant stellen. Er klingt, als hätte er mehr zu erzählen.“ Leises Lachen.
Aus irgendeinem Grund beruhigte ihn das. Worüber war er nur beunruhigt gewesen?
Jury warf einen Blick auf Wiggins, der sich diskret abgewandt hatte und
einzelne Tropfen einer hellgrünen Flüssigkeit mit einer Pipette in den
durchsichtigen Plastikbecher fallen ließ. Das Wasser bekam einen üblen
Grünstich.
„Ich werde mich hüten“, entgegnete er und lächelte. „Ich bekomme auch ohne
Nachfrage jeden Tag einen vollständigen Bericht.“
Obwohl er keinen Namen hinzufügte, warf ihm Wiggins über die Schulter einen
prüfenden Blick zu. Jury lächelte erneut. Wiggins Stirn legte sich in
Dackelfalten.
„Ich bin von Scotland Yard, Mylord. Ich erwarte, dass
man mir stetsvdie Wahrheit sagt.“ Am anderen Ende der
Leitung ertönte ein Fluch und Jury hielt sich grinsend den Hörer vom Ohr weg.
„Du sollst mich nicht so nennen, Richard! Schlimm genug, dass es mir Ruthven, Martha und Momaday jeden
Tag um die Ohren schlagen.“
Das klang schon besser. Jury drückte den Hörer wieder ans Ohr. „Einverstanden.
Aber wie komme ich nun eigentlich zu der Ehre deines Anrufs?“ Das – hier -
schwang unausgesprochen in seiner Frage mit. Sie hatten erst am Abend zuvor
miteinander gesprochen.
„Nachdem du auf dem Handy nicht geantwortet hast, habe ich es in deiner Wohnung
versucht. Dein reizender Anrufbeantworter hat mir freundlicherweise mitgeteilt,
dass du nicht da bist. Warum ist dein Handy aus?“
Jury warf einen Blick auf die Uhr und verbiss eine Verwünschung zwischen den
Zähnen. Es war bereits halb fünf. Er hätte längst unterwegs sein müssen.
Aufgrund Racers perfektem Timing
würde er nun erst sehr spät in Long Piddleton
eintreffen. Er zog eine Schublade des Schreibtisches auf und warf einen
schuldbewussten Blick auf das abgeschaltete Handy. Vielleicht war er einfach zu
alt, um sich an dieses Ding zu gewöhnen.
„Anrufbeantworter?“, fragte er, um vom Thema Handy abzulenken. „War Carol-anne wieder in meiner Wohnung?“ Zu spät fiel ihm ein, dass
sie sich in letzter Zeit nur noch selten bei ihm blicken ließ – und fast
überhaupt nicht mehr, wenn er da war – nur Spuren ihrer Anwesenheit wie
Parfümduft oder Zeitschriften auf der Couch verrieten, dass sie da gewesen war.
So abgeklärt und flapsig sie sich auch geben mochte, er hatte bei dem
zufälligen Zusammen-treffen zwischen ihr und Melrose
im „Angel“ gespürt, dass sie mit der Veränderung in seinem Leben nicht zurecht kam. Er grinste schief und fragte sich, wie er
eigentlich damit zurecht kam...
„...beigebracht, den Hörer abzunehmen?“
„Wem?“, fragte er unüberlegt. „Carol-anne?“
Am anderen Ende der Leitung herrschte ein Moment lang verblüfftes Schweigen.
Dann lachte Melrose leise. „Wo warst du mit deinen
Gedanken?“ Er sprach fast hastig weiter, als erwarte er keine Antwort – oder
aber fürchtete sie. „Ich spreche von Stone. Er hat den Hörer abgenommen und in
den Lautsprecher gebellt, dass ich jetzt noch halb taub bin. Warum um alles in
der Welt hat Stan ihm das beigebracht?“
„Ich glaube nicht, dass Stan diesem Hund irgend etwas
beigebracht hat. Vermutlich war er zu faul es selbst zu tun und Stone hat das
irgendwann einfach übernommen – wie das Bierholen.“
Jury beobachtete sich selbst dabei, wie er mit einem Kugelschreiber, der
unvermutet in seine Finger gelangt war, unleserliche Hieroglyphen an den Rand
der Akte kritzelte. „Warum hast du angerufen?“ Er warf einen Blick auf Wiggins,
der sich gerade eine Tablette unter die Zunge schob, um sie dann mit einem
kräftigen Schluck aus seinem Becher hinunterzuspülen. „Ist alles in Ordnung?
Neuigkeiten von Mindy?“ Im gleichen Moment bereute er, gefragt zu haben.
„Nein, es ist alles bestens. Ich wollte nur – oder genauer gesagt, Martha
wollte – wissen, wann du in Long Pidd ankommst. Wegen
des Dinners.“
„Ich weiß es nicht, kommt ganz darauf an, wie es auf den Straßen mit dem
Verkehr aussieht.“ Er zeichnete ein Strichmännchen neben sein Gekritzel und
übermalte es dann stirnrunzelnd. Melrose musste ihn
mit dieser Angewohnheit angesteckt haben. Er warf den Kuli weg, der über den
Rand des Schreibtisches schlitterte.
Aufgeschreckt von dem Geräusch blickte Wiggins auf, einen halben Kohlekeks im
Mund. Jury winkte ihm zu. „Vermutlich wird es spät“, sagte er zu Melrose. „Racer hat mich mit
einem Stapel alter Akten zugeschüttet. Und ich muss noch Zuhause vorbei und
meine Sachen holen.“ Dass er noch nicht einmal gepackt hatte, verschwieg er
tunlichst.
„Wenn du an einem Fall arbeitest, bleibt es dann trotzdem dabei, dass du erst
am Dienstag nach London zurückfährst?“
Jury lächelte. „Das ist kein Fall, das ist Schikane von Racer.
Vermutlich hat ihn Cyril wieder einmal zur Weißglut getrieben und er lässt es
wie üblich an mir aus. Ich bin auf der Vertretungsliste erst an vierter Stelle,
sollte also nicht der halbe Yard plötzlich krank werden, bin ich hier durchaus
zu entbehren.“ Als ob Racer das jemals gestört hätte
– er würde ihm mit Vergnügen aus Long Piddleton
zurückholen, sollte sich auch nur das geringste
ereignen. Melrose wusste das so gut wie er selbst,
weshalb also sollte er ihm und sich die Laune verderben und es aussprechen.
„Das ist gut, du bist... nämlich hier... nicht entbehrlich.“
Er spürte einen verlegenen Knoten im Hals und warf erneut einen Blick auf
Wiggins, der liebe-voll Medizinfläschchen ordnete. „Melrose...“
Kurzes Lachen am anderen Ende der Leitung, nicht weniger verlegen. „Tut mir
leid, ich wollte nicht...“ Eine Pause. „Ich freue mich auf heute Abend,
Richard.“
„Ich mich auch.“ Er räusperte sich.
„Gut, dann sag‘ Stone einen schönen Gruß von mir.“
„Das werde ich.“ Lächelnd hängte er ein und schlug die Akte zu, um sie mit den
anderen fein säuberlich an der Kante des Schreibtisches zu stapeln.
„Machen Sie Feierabend, Sir?“, fragte Wiggins hoffnungsvoll.
„Ja“, erwiderte Jury und stand auf. „Ich fahre übers Wochenende nach Northants.“
„Oh“, machte Wiggins. „Zu Mr. Plant nach Long Piddleton?“
Jury nickte und nahm seinen Mantel, er hielt verblüfft inne, als der Sergeant
verzückt seufzte. „Eine reizende Ortschaft. Ich habe mich dort sehr wohl
gefühlt, als ich Sie und Mr. Plant besuchte.“
Jury wusste, er würde die Frage eventuell gleich bereuen. „Was haben Sie denn
am Wochenende vor?“
Wiggins schien erstaunt. „Ich, Sir?“ Er blickte auf Batterien an Fläschchen auf
dem Schreibtisch, als wäre das Antwort genug. „Ich bleibe in London, obwohl mir
etwas frische Landluft vermutlich gut tun würde.“
Wiggins und Landluft? Jury hatte stets den Eindruck, der Sergeant würde
außerhalb Londons nur so dahinsiechen. Er zog seinen Mantel über. Und zögerte
erneut. Seufzend fragte er sich, was Melrose dazu
sagen würde... „Möchten Sie vielleicht mit nach Long Piddleton
kommen?“
Wiggins blasses Gesicht erstrahlte förmlich. „Sir? Aber ich möchte auf keinen
Fall Mr. Plant zur Last fallen.“
„Ich bin sicher, er freut sich.“ Das war er zwar nicht, aber er verließ sich da
ganz auf Melrose‘ gute Erziehung.
Und Wiggins war ohnehin schon dabei die wichtigsten Fläschchen, Schachteln und
Dosen – nicht zu vergessen je eine Packung Hustendrops und Fishermans
Friend – in eine Tasche zu fegen. So achtlos hatte ihn Jury selten mit seinen
Mittelchen umgehen sehen. „Ich werde mir natürlich ein Bed
& Breakfast suchen.“
„Himmel, Wiggins – Ardry End hat wirklich genug
Gästezimmer.“
Der Sergeant hielt einen Moment inne. „Und Sie sind sicher, dass ich nicht
stören werde?“, fragte er noch einmal mit treuherzigem Blick. Wäre er ein Hund
gewesen, hätte er vermutlich mit dem Schwanz gewedelt.
„Nein, Wiggins, Sie stören nicht“, seufzte Jury. „Ich fahre jetzt zu mir nach
Hause und hole Sie dann...“ Er warf einen Blick auf die Uhr. „...in einer
halben Stunde ab. Reicht das?“
„Natürlich, Sir.“ Wiggins zurrte den Reißverschluss der Tasche zu und holte
seinen Mantel. „Und vielen Dank, Sir.“ Er huschte an Jury vorbei aus dem Büro
„Nichts zu danken.“ Jury folgte ihm etwas langsamer.
Auf dem Korridor begegnete er Fiona. Automatisch strich sie sich das Haar
zurück und zupfte ihr schwarzes Kostüm zurecht. „Oh
Hallo, Mr. Jury“, sagte sie. „Schon Feierabend?“
„Hält Racer Sie noch auf Trab, Fiona?“, fragte er
mitfühlend.
Fiona schüttelte ihren sorgfältig frisierten Kopf. „Er ist schon seit zwei
Stunden außer Haus. Cyril ist auf den Schrank gehüpft, als er hinter ihm her
war und dabei ging das Bild Ihrer Majestät kaputt, das immer noch dort lag.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Angeblich hat Cyril es hinab gestoßen, aber ich
glaube, das war er selbst. Seit der Renovierung liegt es nun dort oben auf dem
Schrank und staubt ein. Warum hat er es nicht längst an die Wand gehängt. Er
hat mir befohlen, den Kammerjäger zu rufen und ist in seinen Club abgedampft.“
Jury beobachtete sie, während sie munter weiter plapperte und sah die Unruhe
unter der normalen Fassade - in ihrem ausweichenden Blick, dem ungewöhnlichen
großen Abstand, den sie zu ihm hielt. Sie also auch, dachte er mit einem Anflug
von Traurigkeit. Er fragte sich, ob Wiggins für die Verbreitung der Nachricht
im Yard verantwortlich war. Oder hatte er es selbst provoziert?
„Ich hoffe, Sie haben ein schönes Wochenende, Mr. Jury.“
Fionas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie blickte ihn erwartungsvoll an
und wartete offenbar auf eine Antwort. Jury lächelte. „Das wünsche ich Ihnen
auch. Erinnern Sie Racer am Montag bitte nicht daran,
dass ich erst Dienstag nach London zurückkomme, sonst ist er glatt dazu im
Stande und holt mich aus purer Bosheit früher zurück.“
Einer Falte zog haarfeine Risse in das sorgfältig aufgetragene Make-up auf
Fiona Clingmores Stirn. „Oh, Sie verreisen?“
„Nein.“ Er wandte sich zum Gehen. „Ich fahre nur nach nach
Hause. Nach Northans. Auf Wiedersehen, Fiona.“
Ihr „Adieu, Superintendent“ kam mit erheblicher Verspätung.
* * *
Er benötigte länger als eine halbe Stunde, da ihn Mrs.
Wassermann aufhielt. Wie immer, wenn er London verließ, hatte sie ihm Proviant
in einen Korb gepackt. Er dankte ihr und nahm ihr das Versprechen ab, sich ein
wenig um Carol-anne zu kümmern – was eher ihr als
Carol-anne zu Gute kommen würde. Sie versicherte ihm,
dass der Mann, der sie stets verfolgte, schon seit Tagen nicht mehr in der Nähe
gewesen wäre und er also unbesorgt zu dem netten Mr. Plant fahren könne. Mrs. Wassermann hatte eine Schwäche für den Adel.
Als er die Straße endlich erreichte, in der Wiggins Wohnung lag, wartete der
Sergeant schon am Straßenrand – den Inhalator
griffbereit.
„Das ist dieser furchtbare Smog“, erklärte er keuchend, während er seine Tasche
auf den Rücksitz beförderte und sich dann neben Jury niederließ. Der Inhalator zischte zustimmend.
„Ich wurde aufgehalten.“ Jury fühlte sich geradezu zu einem entschuldigenden
Tonfall genötigt, obwohl Wiggins keineswegs vorwurfsvoll geklungen hatte.
Wiggins machte niemanden im Besonderen für seine zahllosen Wehwehchen
verantwortlich.
„Das macht ja nichts, Sir“, beschied der Sergeant großmütig. „Soll ich Sie beim
Fahren ablösen?“
„Danke für das Angebot.“ Vor ihnen bremste ein Wagen plötzlich scharf ab und
Wiggins stieß ein ersticktes Keuchen aus, als Jury ebenfalls bremsen musste und
er in den Gurt gepresst wurde. „Aber so weit ist es ja nicht.“
Abgesehen davon, dass Wiggins - wie ein Hund, der an jedem Baum das Bein heben
will – sehnsüchtige Blicke und Seufzer bei jedem „Happy Eater“
Schnellrestaurant ausstieß, an dem sie vorbeifuhren, war es eine ruhige und
angenehme Fahrt.
Sie erreichten Long Piddleton mit dem letzten
Tageslicht.
# # #
Ruthven verzog natürlich keine Miene, als er die Tür
öffnete und zwei – statt des einen, erwarteten - Besucher vorfand. „Guten
Abend, Mr. Jury. Guten Abend, Mr. Wiggins.“ Er wich zurück, damit sie eintreten
konnte. „Wir freuen uns, dass Sie hier sind.“ Selbstverständlich entsprach er
Jurys Wunsch, ihn nicht bei seinem Titel zu nennen, solange er sich privat in Ardry End aufhielt.
Jury überließ ihm seine Tasche – aus früheren Aufenthalten wusste er, dass Ruthven sich nicht nehmen lassen würde, sie persönlich ins
Haus zu tragen. „Wo ist Melrose?“
„Mylord ist im Wohnzimmer.“ Ruthven
schritt würdevoll voraus. „Soll Martha Ihnen einen kleinen Imbiss
zusammenstellen?“, fragte er, als er sachte die doppelflügelige Tür zum
Wohnzimmer aufstieß.
Jury lehnte ab, er hatte Mrs. Wassermanns liebevoll
bereiteten Sandwiches aufgegessen, um sie nicht zu enttäuschen. Wiggins dagegen
blickte förmlich ausgezehrt drein, als er Ruthven in
die Küche folgte.
Er zog die Tür hinter sich zu. Der Raum war sparsam beleuchtet. Melrose saß ihn einem Sessel beim Kamin, der jetzt im Frühherbst
wieder genutzt wurde - und schlief. Sein Kopf war zur Seite gefallen, das Feuer
warf flackernde Schatten darauf und auf dem Schoss hatte er ein aufgeschlagenes
Buch.
Vorsichtig nahm Jury es weg und legte es zur Seite. Als er sich vorbeugte, um Melrose Schulter zu berühren und ihn zu wecken, hielt er
inne. Das weiche, indirekte Licht ließ gut zwanzig von Melrose
zweiundvierzig Jahren verschwinden.
Er spürte plötzlich eine unerwartete Scheu, ihn zu berühren, ihn zu wecken. Auf
was hatten sie sich eingelassen? Wie hatte das passieren können? Er hatte nie
geglaubt, sich jemals zu einem Mann hingezogen zu fühlen und in all den Jahren
zuvor, in denen er Melrose kannte... da war nie mehr
gewesen. Oder?
Obwohl es für sie beide eine neue Erfahrung gewesen war, hatten sie nie darüber
gesprochen. Oder über frühere Beziehungen. Er ahnte, dass es da für Melrose noch etwas Unbeendetes mit Bea gab und Ellen sich
für den nächsten Monat zu einem längeren Besuch angekündigt hatte, was Melrose zu einer unerwartet heftigen Antwort veranlasst
hatte.
Melrose dagegen wusste von Jane, er war an den
Ermittlungen nach ihrem Tod beteiligt gewesen. Und natürlich von Jenny...
Sein Verhältnis zu ihr war noch immer sehr gespannt. Seit der Nacht in Stratford-upon-Avon hatten sie
zwei- oder dreimal miteinander telefoniert. Es waren sehr kurze Gespräche
gewesen. Eigentlich hatte er sie nur angerufen, um zu fragen, was es Neues gab
– obwohl DC Bannen ihn auf dem Laufendem hielt...
Melrose schlug die Augen auf. Wie grünes Feuer,
dachte Jury unwillkürlich, als er sah, wie sich die Flammen darin spiegelten.
„Richard.“
Er vollendete die Bewegung und legte Melrose die Hand
auf die Schulter. „Ich wollte dich nicht wecken.“
Melrose schüttelte den Kopf und lächelte jungenhaft.
„Ich bin wohl eingeschlafen.“
Ein kurzes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
„Hattest du...“
„Ich habe...“
Sie hatten gleichzeitig begonnen, zu reden. Jury lachte. „Du zuerst.“
Melrose legte seine Hand über Jurys. „Ich wollte nur
wissen, ob du eine angenehme Fahrt hattest.“
„Ja. Für einen Freitagabend war sehr wenig los. Wiggins meinte...“, er
unterbrach sich.
Melrose zog die Hand zurück, streckte sich und
gähnte. „Was meinte dein Sergeant?“, fragte er.
„Ich hoffe, du bist mir nicht böse... ich habe ihn mitgebracht.“
„Mitgebracht?“ Melrose sah ihn erstaunt an.
„Er tat mir leid, als er mir sein eigenes, trostloses Wochenende schilderte.“
Jury zuckte mit den Schultern.
Melrose stand auf. „Gut, dann werde ich Ruthven sagen, dass er eines der Gästezimmer fertig macht.
Wartet Wiggins etwa draußen?“
Jury hielt ihn zurück. „Ruthven ist sicherlich
bereits dabei. Wiggins ist bei Martha in der Küche. Wir haben die „Happy Eater“ ausgelassen.“ Er blickte Melrose
an. „Stört es dich?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er zögerte einen winzigen Moment, bevor er antwortete
- doch Jury hakte nicht nach. „Ich gebe am Sonntag ohnehin eine Party.“
„Du? Eine Party?“, fragte Jury verblüfft.
Melrose nickte unglücklich. „Es war Dianes Idee und
eigentlich ist es auch ihre Party. Sie findet nur hier statt.“
Jury zog die Hand zurück und setzte sich in einen Sessel. „Was gibt es denn für
einen Anlass zu feiern?“
Melrose goss einen Fingerbreit Kognak in zwei Gläser.
„Das wirst du brauchen, wenn du die gute Nachricht hörst“, sagte er und reichte
Jury ein Glas. „Sie hat ihre Kolumne aufgegeben und
bekommt eine tägliche Sendung im Fernsehen, um ihre Horoskope zu präsentieren.“
Jury verschluckte sich fast an seinem Kognak. „Was? Diane Demorney
im Fernsehen?“
Melrose nickte düster, als er sich ihm gegenüber
nieder ließ. „Nach der Regenfrau und vor der Werbung.“
„Das ist kaum zu glauben.“ Er beobachtete das Spiel des Lichts in der warmen,
bernsteinfarbenen Flüssigkeit. „Heißt das, sie zieht nach London?“
Melrose schüttelte den Kopf. „Sie zeichnen die
Sendungen jeweils für einen Monat im Voraus auf und das in einer Woche.“
„Für jemanden wie Diane klingt das nach ungewohnt viel Arbeit.“
Melrose leerte sein Glas. „Sie richtet schon das
Studio ein“, meinte er seufzend. „Noch einen?“
Jury schüttelte den Kopf. „Ich bin müde“, sagte er, stellte das Glas weg und
stand auf. Erneut breitete sich kurzes Schweigen zwischen ihnen aus.
Dann erhob sich Melrose und trat zu ihm. Er hob die
Hand, ließ sie wieder sinken. „Ich... wegen heute Nacht... es ist so, dass
ich...“
„Ich werde Ruthven bitten, mir eines der Gästezimmer
zu geben“, sagte Jury rasch, um ihnen weitere Verlegenheit zu ersparen. Er
wandte sich zum Gehen.
„Nein. Richard!“
Er hielt inne. „Ich verstehe vollkommen“, sagte er leise, ohne sich umzudrehen.
„Ich bin selbst... verwirrt.“ Er schloss die Augen, als Melrose
die Arme um ihn legte.
„Ich möchte nicht, dass du heute Nacht in einem Gästezimmer verbringst.“
Jury drehte den Kopf und sah ihn an. „Melrose, ich
weiß nicht mehr, ob es richtig ist...“, meinte er zweifelnd. „Aber ich will
nicht mehr ohne dich sein...“ Er unterbrach sich, beugte sich vor und küsste
ihn.
Ende