FP: Holmes, wo bist Du?
Disclaimer:
Die meisten hier
dargestellten Figuren gehören Sir Arthur Conan Doyle, einige stammen jedoch aus
meiner Feder. Die Handlung entspringt einzig und allein meiner Fantasie. Ich
verdiene durch das Schreiben und Veröffentlichen dieser Geschichte im Internet
kein Geld und nutze sie auch sonst nicht für kommerzielle Dinge.
Zusammenfassung:
Watson kommt
eines Abends von einem Krankenbesuch nach Hause und nichts ist mehr so wie es
mal war. Holmes ist verschwunden und auch sein Bruder Mycroft ist heimlich
verreist. Welches Geheimnis umgibt die beiden Brüder? Wird Watson Holmes jemals
wieder sehen?
Rating: (bis
jetzt noch) ab 12
Als ich an jenem Abend in die Baker Street
zurückkehrte, überfiel mich schon ein ungutes Gefühl als ich unsere Zimmertüre
öffnete.
Mrs Hudson hatte mir im Hausflur erzählt, dass
heute morgen vier Männer mit einer großen Kiste für Holmes gekommen waren,
diese aber wieder mitgenommen hatten. „Falsch geliefert“, hatte ihr einer der
vier zugerufen, als sie wieder gingen, die Kiste aber immer noch bei sich
trugen.
Danach hatte sie sich wieder ihrer täglichen
Arbeit gewidmet.
Zuerst war sie auf den Markt gegangen, um
einzukaufen und noch ein paar andere Besorgungen zu machen. Schließlich war
bald Weihnachten. Als sie dann gegen Mittag nach Hause kam, machte sie sich
sogleich daran, das Mittagessen zu kochen. Sie stellte Teller und Schüsseln auf
ein Tablett und trug es nach oben.
Sie setzte das Tablett auf dem kleinen Tisch
neben unserer Eingangstür ab und klopfte an. Nichts. Keinerlei Reaktion. Sie
klopfte lauter. Wieder nichts. Noch einmal. Immer noch nichts. Da Holmes in
dieser Zeit des Abends manchmal zur Kokainflasche griff -mehr als mir lieb war-
und infolge des Rausches dann nicht mehr viel mitbekam, nahm Mrs. Hudson allen
Mut zusammen und drückte die Klinge entschlossen hinunter.
Rausch hin oder her, Holmes musste etwas zu sich
nehmen. Er war überhaupt viel zu dünn. Zwar hatte er damals den Fall der Liga
der rothaarigen Männer schon abgeschlossen, aber er arbeitete gelegentlich an
einem neuen chemischen Experiment zur Erforschung verschiedener Petroleumsorten
und ihre Auswirkungen auf Stoff- und Gewebearten und gönnte sich meistens keine
Ruhe, bis er nicht zu einem zufrieden stellenden Ergebnis kam.
Sogar seine Geige vernachlässigte er. Und dabei
hörte ich ihn doch so gerne spielen. Doch sobald ich ihn daraufhin ansprach,
bekam ich nur ein unwirsches „Jetzt nicht!“ zu hören. Somit blieben mir viel
Zeit für meine Bücher und den ein oder anderen Besuch bei ehemaligen Patienten,
die hin und wieder meine Hilfe in Anspruch nahmen.
So wie an jenem Tag Mitte Dezember.
Wie schon oben zu lesen ist, stand Holmes in
dieser Zeit nicht der Sinn nach irgendwelchen anderen Dingen und selbst einen
für mich zumindest viel versprechenden Fall hatte er mit einer kurzen, aber
nicht in die Tiefe gehenden Begründung abgelehnt.
Ich weiß heute immer noch nicht, was der Anlass
für sein merkwürdiges Verhalten war –ich hatte ja schon einiges mit ihm erlebt,
irgendetwas beunruhigte mich trotzdem-, aber ich vermute, dass es mit einigen
Briefen zusammenhing, die er damals in kurzem Abstand erhielt. Er warf sie
jedoch vor meinen Augen direkt ins Feuer, so dass ich meine Theorie nicht
nachprüfen konnte, nachdem mir Mrs. Hudson berichtet hatte.
Aber ich merke, meine Gedanken schweifen zu sehr
ab...
Mrs. Hudson hatte also die Tür geöffnet und war
nicht wenig erstaunt, als ihr ein beißender Rauch entgegenschlug. Das Tablett
war vergessen, sie stürzte ins Wohnzimmer und riss die Fenster auf.
„Holmes“, rief sie und machte sich auf die Suche
nach ihm. Doch sie fand ihn nicht. Nicht im Wohnzimmer, nicht in allen anderen
Räumen. Stattdessen sah sie auf seinem Bett etwas liegen, das sie nicht wenig
erschreckte....
Auf dem Bett lag Holmes’ Stradivari, aber
zerschlagen und zu Kleinholz verarbeitet. Sogar das Messer mit dem die Saiten
durchtrennt worden waren, lag noch daneben.
Mrs. Hudson konnte es nicht glauben.
Doch zuerst musste sie die Ursache des Rauches
finden, bevor sie sich wieder der Geige zuwandte. Sie ließ ihren Blick durch
das Zimmer schweifen. Vielleicht war hier etwas.
Auf einem Tisch, der an der Wand stand,
entdeckte sie Holmes’ letztes Experiment. Sie trat näher: Er hatte anscheinend
vergessen, den Gashahn des Brenners zu zudrehen und so verdampfte die
Flüssigkeit im Kolben darüber immer weiter.
Holmes hatte irgendeine Chemikalie zugesetzt, um
dadurch Reste von Petroleum nachzuweisen. Er hatte ihr das eines Abends
erzählt, als er mit russverschmiertem Gesicht bei ihr im Erdgeschoß auftauchte
und sie um einen alten Schal als ‚neutrales’ Versuchsobjekt gebeten hatte.
Mrs. Hudson stellte das Gas ab und öffnete die
restlichen Fenster in unserer Etage.
Dann wandte sie sich wieder der Stradivari zu:
Die Saiten waren mit dem Messer vom Steg getrennt worden und der Steg dann vom
Klangkörper. Es sah zu schrecklich aus, um es hier noch weiter zu beschreiben...
Auf jeden Fall sah es Holmes keineswegs ähnlich,
seine Geige zu zerschlagen; er hütete sie vielmehr wie ein rohes Ei. Wenn sie
auf einem Regal im Wohnzimmer lag und Mrs. Hudson putzte, sprang er schnell auf
und legte sie in ihr Futteral. Wenn er nicht da war, musste sie einen weiten
Bogen um das Regal machen.
Und jetzt das! Ich konnte verstehen, dass unsere
gute Seele davon mehr als erschüttert war!
Holmes’ plötzliche Abwesenheit schreckte sie
nicht auf:
Er würde wiederkommen, morgen früh oder übermorgen.
Holmes kannte zahlreiche Schlupfwinkel in und um London, wenn er jemanden
beobachten oder einfach nur alleine sein wollte.
Aber die Geige war sein Ein und Alles, sein
Schatz, neben einer alten, verblichenen Zeichnung eines jungen Mannes, die er
meistens in der obersten Nachtischschublade aufbewahrte, falls er sie nicht bei
sich trug. Von diesem jungen Mann kannte ich nicht mehr als die Zeichnung.
Oft überrasche ich Holmes zwar, wie er sie in
der Hand hielt, aber mehr verraten hatte er mir nie. Sobald ihn danach fragte,
stöhnte er tief und bedeutete mir so, dass es besser wäre, ihn damit in Ruhe zu
lassen. Meistens verschwand er dann in seinem Schlafzimmer und hantierte mit
etwas, vermutlich der Kokainflasche. Er musste Holmes viel bedeutet haben, wenn
eine Frage meinerseits so eine Reaktion hervorrief.
Ob dieser Mann ein Teil von Holmes’ Familie war,
konnte mir auch Mrs. Hudson nicht erklären, da sie über ihren Mieter nicht viel
mehr wusste als ich selbst. Nach unserem Kenntnisstand waren seine Eltern im
Abstand von wenigen Jahren gestorben und Sherlock hatte nur noch einen Bruder,
Mycroft Holmes, der sich am liebsten im Diogenes-Club aufhielt. Ob noch weitere
Verwandte existierten, wussten wir nicht. Ich hatte Mycroft insgeheim zwar
schon darauf angesprochen, aber er antwortete nur mit den Worten: „Wenn
Sherlock nichts erzählen will, tue ich es erst recht nicht!“
Nachdem ich mich ein wenig von Mrs Hudson
Bericht erholt hatte, ging ich hinauf. Mein erster Weg führte in Holmes’
Schlafzimmer. Das Bild lag noch in der Schublade, er hatte also anscheinend
nicht geplant, länger wegzubleiben. Da es in unseren Räumen immer noch etwas
unangenehm roch, ging ich wieder hinunter und leistete Mrs. Hudson bei einer
Tasse Tee Gesellschaft.
Wir unterhielten uns über verschiedene Dinge,
was es an Weihnachten zu essen geben sollte, wann wir einen Baum holen würden
(das machte wir zwei immer gemeinsam, da es für eine ältere Frau doch etwas zu
schwer war), vermieden es aber tunlichst über Holmes zu reden. Ich weiß bis heute
nicht, weshalb, aber wir hatten anscheinend eine stille Vereinbarung getroffen,
das Problem der Stradivari erst dann wieder anzusprechen, bis wir nicht mehr
innerlich zitterten.
Als es schließlich auf Mitternacht zuging,
wünschte ich Mrs Hudson eine gute Nacht und ging wieder hinauf. Ich schloss
alle Fenster, zog mich aus und legte mich ins Bett. Mein letzter Gedanke, bevor
ich einschlief, war: „Holmes, wo bist Du?“
Ich wanderte über die Dächer einer Stadt. Hie
und da war ein Fenster erleuchtet, doch im Allgemeinen war es tiefschwarze
Nacht.
Als ich an ein helles Fenster kam, blickte ich hinein. Ein Mann saß an seinem
Schreibtisch und schrieb. Vor ihm stand ein Käfig mit einer Maus. Anscheinend
beobachtete der Mann ihr Verhalten. Das erinnerte mich an Holmes, der sich
manchmal auch damit unterhielt, die Menschen, die an unserem Zimmerfenster
vorbeiliefen, zu beobachten.
Ich ging weiter.
Im nächsten erleuchteten Fenster erblickte ich
eine Familie, die gerade zu Abend aß.
Nebenan lagen zwei Männer auf einem Bett. Sie
waren unbekleidet. Eigentlich hätte ich schockiert sein müssen, aber aus
irgendeinem Grund war ich es nicht. Sie strichen zärtlich über den Körper des
anderen, als ob sie sich ihn genau einprägen wollten. Plötzlich hörten sie
anscheinend etwas, denn einer der beiden sprang hastig auf, packte seine
Kleider und versteckte sich in einem Schrank. Kaum hatte sich dessen Tür
geschlossen, als die Zimmertür aufging und ein streng aussehender Mann in
Begleitung zweier stämmiger Polizisten hereinstürmte. Was sie sagten, konnte
ich durch das geschlossene Fenster nicht verstehen, aber es schien nichts
Angenehmes zu sein, denn der junge Mann, der sich in der Zwischenzeit seinen
Morgenrock übergeworfen hatte, stand wild gestikulierend vor den drei Männern.
Auf einmal zog einer der Gesetzeshüter ein Paar Handschellen hervor und legte
sie gerade dem jungen Mann an, als der andere junge Mann aus seinem Versteck
hervorkam. Vielleicht wollte er seinem Freund, ja offensichtlich auch Geliebten,
beistehen und dessen augenscheinliche Verhaftung verhindern. Doch was sollte
er, der immer noch keine Kleidung trug, schon gegen den scheinbaren Arm der
Gerechtigkeit schon ausrichten können? Mit dem Resultat, das sich nun jedoch
vor meinen Augen abspielte, hatte selbst ich nicht gerechnet. Der dritte Mann
zog aus der Tasche seines Mantels einen Revolver und schoss auf ihn. Dieser
sank auf dem Boden zusammen. Anstatt sich jedoch um den Verletzten zu kümmern
und den Mann festzunehmen, nahmen die beiden Polizisten den Gefesselten ihn
ihre Mitte und verließen mit ihm das Zimmer. Er drehte sich immer wieder zu
seinem Freund um und versuchte sich zu loszureißen, doch dem eisernen Griff
entkam er nicht.
Mich erwartete jedoch noch ein weiterer Schock:
Der Mann trat nun zu dem am Boden liegenden hin und stieß ihm den Fuß mit aller
Macht in den Bauch. Danach richtete er sich wieder auf und kam näher zum
Fenster. Er blickte auf und schien mich durch die Scheibe hinweg wahrnehmen zu
können. Er hatte das Gesicht von Holmes! Doch es war nicht Holmes, wie ich ihn
kannte. Er hatte blutunterlaufene Augen und sein Gesichtsausdruck konnte man
mehr tierisch als menschlich nennen. Er sah aus wie die Bestien aus den
Schauermärchen, die ich während meiner Jugendzeit heimlich verschlungen hatte.
Er kam dem Fenster immer näher und es schien mir, als suchte er fieberhaft eine
Möglichkeit auf das Dach und damit zu mir zu kommen.
Ich stieß einen schrillen Schrei aus und wich
zurück. Da ich aber mit dem Rücken zum Rand des Daches stand, konnte ich nicht
sehen, wo ich hintrat. Anscheinend war ich der Regenrinne zu nahe gekommen,
denn plötzlich gab sie nach und ich stürzte in die Tiefe...
Ich schreckte hoch. Offensichtlich hatte ich
mich im Schlaf mehrmals gedreht und so fand ich mich neben meinem Bett auf dem
kleinen Vorleger wieder. Nur langsam konnte ich mich dazu bringen aufzustehen,
denn meine Glieder waren ob der ungewöhnlichen Härte doch recht steif geworden.
Mit Mrs. Hudson hatte ich am Abend vorher
vereinbart für das Frühstück zu ihr herunter zukommen und so stieg ich nach
meiner Morgenwäsche die 17 Stufen, die ins Erdgeschoß führten, hinunter. Ich
hatte nur um etwas Porridge und ein Kännchen Tee gebeten. Dafür musste ich mich
wohl bei meiner Vorahnung bedanken, da ich nach diesem Alptraum immer noch
einen Kloß im Magen hatte und bestimmt nicht viel essen konnte.
Als ich in die Küche trat, saß Mrs. Hudson schon
am Tisch. Vor ihr standen Porridge und Tee. Wir aßen schweigend. Jeder hing
seinen Gedanken nach, bis wir durch ein klapperndes Geräusch an der Haustür
aufgeschreckt wurden. Der Briefbote war gekommen!
Mrs. Hudson stand auf und ging hinaus. Als sie
wiederkam, hatte sie einen Brief in der Hand, den sie mir entgegenstreckte.
„Für Sie, Doktor!“ sagte sie. Ich nahm ihn ihr ab und öffnete ihn. Der Umschlag
enthielt ein Blatt Papier, auf dem mit aus Zeitungen ausgeschnittenen Wörtern
etwas geschrieben stand:
SUCHEN SIE NICHT NACH
SHERLOCK ODER SIE WERDEN IHN NIE WIEDER SEHEN!!
HOLMES
„Also ist er entführt worden“, stellte Mrs.
Hudson bestürzt fest, die immer noch neben mir stand. „Aber was ist mit der
Unterschrift?“ fragte ich ratlos. „Hat er Ihnen nie etwas von seiner Familie
erzählt?“ gab sie mir zur Antwort. „Nein, ich habe zwar mehrmals versucht ihn
zu fragen, aber er ist mir jedes Mal ausgewichen.“ Wir zweifelten keinen
Augenblick an der Echtheit des Briefes. Nur der Grund blieb uns im Moment noch
sehr rätselhaft.
Wieder umgab uns minutenlange Stille, bis wir
auf einmal fast gleichzeitig sagten:“ Und warum gehen wir nicht einfach zu
Mycroft Holmes?“ Mrs. Hudson wusste von meinen Besuchen bei Sherlocks Bruder
und den erfolglosen Gesprächen mit Mycroft, aber jetzt war etwas eingetreten,
das alles ändern konnte. So hofften wir zumindest.
Unsere
treue Seele wollte mich unbedingt begleiten und so machten wir uns bald nach
dem Frühstück auf den Weg. Wir fuhren nicht mit einer Kutsche, da wir ungestört
beraten wollten, wie wir Mycroft dazu bringen könnten, etwas über seine Familie
zu berichten. Uns fiel jedoch nicht viel ein und so beschlossen wir Mycrofts
Reaktion abzuwarten.
Als wir im Diogenes-Club ankamen, erwartete uns
eine zweite Überraschung: Mycroft Holmes sei für uns nicht zu sprechen, da er
seit gestern Abend verreist sei. So teilte es uns einer der Butler mit. Perplex
sahen wir uns an. Was hatte das alles zu bedeuten? Wir sahen ein, dass wir im
Club nichts mehr ausrichten konnten und beschlossen in die Baker Street
zurückzukehren.
Dort angekommen, widmete Mrs. Hudson sich ihrer
täglichen Arbeit und ich stieg in unsere Räume hinauf und machte dort Feuer im
Kamin. Dann nahm ich die Zeitung zur Hand und fing an zu lesen.
Plötzlich setzte ich mich ruckartig auf. Die
Zeitung!!! Aus der Tasche meines Jackets zog ich diesen unheilvollen Brief
hervor. Ich faltete ihn auseinander, breitete ihn auf dem kleinen Tischchen
neben mir auseinander und rieb mit der Fingerspitze fest darüber. Schwarze
Farbe blieb an meinem Finger hängen. Das hieß, dass die Zeitung, aus der diese
Wörter stammten, erst heute morgen erschienen war. So hatte zumindest Holmes es
mir immer erklärt. Je schwärzer der Finger, desto frischer die Zeitung!
Bestärkt in meinem Eifer wie Holmes die Nachforschungen anzustellen, machte ich
mich daran den Umschlag genauer anzusehen. Fehlanzeige! Der Poststempel war so
sehr verwischt, dass man den Ort nicht mehr entziffern konnte, an dem er
aufgegeben worden war.
Mit einem Seufzer auf den Lippen lehnte ich mich
zurück. Wo sollte ich jetzt weitermachen? Holmes hätte sofort eine Lösung
gewusst und auch mehr aus dem Umschlag herausbekommen, aber nun war ich es, der
die Nachforschungen anstellen musste. Es ging nun um das Leben von Sherlock
Holmes!
Ich grübelte und grübelte. Mir wollte einfach
nichts Vernünftiges einfallen. Holmes hatte immer eine Idee parat, wie er
weiter vorgehen sollte, aber mir mangelte es irgendwie daran. Ich drehte den
Brief nochmals in meinen Händen. Wie konnte ein so unscheinbares Stückchen
Papier mir so große Angst einjagen? War es die Drohung, Holmes nicht mehr
wieder zu sehen oder die merkwürdige Unterschrift? Und wieso war Mycroft so
plötzlich verschwunden? Hatte er etwas damit zu tun? Immerhin war er auch ein
Holmes...
Warum hatte Holmes auch damals die Briefe direkt
ins Feuer werfen müssen? Dann hätte ich jetzt vielleicht leichter einen
Anhaltspunkt gefunden, um meine Suche fortzusetzen.
Auf einmal durchzuckte mich ein Gedanke:
Wenn der Brief schon heute bei uns angekommen
und Holmes ganz offensichtlich gestern entführt worden war, musste der Brief in
London aufgegeben worden sein. Das würde bedeuten, dass sich wie damals im
Baskerville-Fall auch die zerschnittene Zeitung noch irgendwo in den Londoner
Abfallkörben befinden musste. Danach zu suchen, konnten aber Mrs. Hudson und
ich alleine nicht schaffen. Hier brauchten wir Hilfe. Und wer wäre dafür besser
geeignet als die von Holmes des öfteren angeheuerten „Baker Street Irregulars“,
die sich in den Hinterhöfen und dunklen Ecken von London im Allgemeinen sehr
gut auskannten.
Doch zuerst einmal musste ich feststellen, aus
welcher Zeitung die Worte ausgeschnitten worden waren. Ich erhob mich, zog
meinen Mantel an, nahm meinen Schirm und ging hinunter zu unserer treuen Seele,
um ihr Bescheid zu sagen, dass ich für eine Weile das Haus verlassen würde.
„Viel Glück, Doktor“, sagte sie leise und wischte sich mit ihrem Staubtuch die
Tränen aus den Augen.
Die Gute! Sie hing mehr an Holmes als sie es
manchmal zeigte! Kein Wunder, ich konnte es nachvollziehen. Wer würde nicht
gelegentlich wütend sein, einen Mieter zu haben, der aus Langeweile mit einer
Pistole die Wände „verschönerte“?
Als ich aus dem Haus trat, kam ich als erstes in
ein dichtes Schneegestöber. Vorhin, als ich mit Mrs. Hudson in die Baker Street
zurückgekehrt war, hatte es schon angefangen, aber jetzt wollte es anscheinend
gar kein Ende nehmen. Mein erstes Ziel war die Victoria Station. Dort gab es
meines Wissens die meisten Zeitungen und ich würde nicht allzu lange im Schnee
herumlaufen müssen. Wie üblich nahm ich nicht die erste, auch nicht die zweite,
sondern erst die dritte Droschke, die an mir vorbeifuhr. Ich lehnte mich zurück
und dachte nach. Welche Zeitungen hatten wohl etwas über Holmes veröffentlicht?
Er hatte sich in der letzten Zeit eigentlich mit keinem Aufsehen erregenden
Fall beschäftigt und war nur seinen Experimenten nachgegangen. Hatte er selber
vielleicht einen Artikel geschrieben? Ich beschloss mir nicht länger den Kopf
zu zerbrechen, sondern zu warten, bis ich die Zeitungen in den Händen hielt.
Bei der Ankunft vor der Victoria Station wurde
ich jäh aus meinen Gedanken gerissen, als jemand von außen die Tür öffnete und
höflich fragte: „Haben Sie Gepäck, Sir? Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Bei
dem Klang der Stimme wurde ich hellhörig. „William mein Guter! Was machst Du
denn hier?“ „Ich versuche mir ein wenig Geld zu verdienen, Doktor Watson. Ich
trage die Koffer zu den Bahngleisen.“ „Möchtest Du Dir einen Schilling
verdienen?“ „Au ja!“ „Dann lauf los und rufe alle zusammen. Mr. Holmes braucht
eure Hilfe.“
Kapitel 6
„Wohin soll ich sie denn bringen, Doktor
Watson?“ fragte mich William, nachdem ich ausgestiegen war. „In unsere Räume in
der Baker Street, wie üblich. Und bring Louis mit.“ „In Ordnung“, meinte er und
lief los. Ich wies den Kutscher an, auf meine Rückkehr zu warten und ging ins
Bahnhofsgebäude hinein. Dort wandte ich meine Schritte in Richtung der
Zeitungsverkäufer, die zwischen den Gleisen auf und ab gingen und die neuesten
Schlagzeilen ausriefen. Nachdem ich bei mehreren von ihnen sechs verschiedene
Zeitungen erworben hatte, kehrte ich zur Kutsche zurück und fuhr durch den
Schneesturm wieder zur Baker Street.
Dort angekommen, ging ich kurz zu Mrs. Hudson
herein, um nach ihr zu sehen und sie von meinen nächsten Schritten zu
unterrichten. Außerdem bat ich sie, mehrere Kannen mit Tee und etwas zu essen
vorzubereiten. „Warum so viel?“ fraget sie mich. „An der Viktoriastation habe
ich William getroffen und ihn gebeten, die anderen alle zusammenzurufen.“ „Das
war sehr gut, Verbündete können wir jetzt mehr denn je gebrauchen.“ „Ich habe
ihm gesagt, er solle auch Louis mitbringen. Vielleicht kann er Mycroft
zeichnen. Oft genug hat er ja mit ihm zusammengearbeitet.“
Auch wenn Mrs. Hudson mich versteht, lege ich
hier eine kleine Pause ein, um meinen erstaunten Lesern zu erklären, wer
William und Louis sind und warum sie uns behilflich sein können. Holmes hatte
bei einigen seiner Fälle schon oftmals das Problem gehabt, mehrere Verdächtige
zur selben Zeit beobachten zu müssen. Deshalb hatte er sich an Billy, den
ehemaligen Botenjungen gewandt und ihn gebeten, noch andere zuverlässige Jungen
zu suchen, die bereit wären, natürlich gegen Bezahlung, ihm bei seinen
Beobachtungen zu helfen. Billy war aber bald darauf mit seinen Eltern aufs Land
gezogen und Holmes hatte William zum Anführer der „Baker Street Irregulars“
gemacht. Das war er nun schon seit drei Jahren und Holmes war immer sehr
angetan von ihm. Er machte sich wirklich gut.
Louis war ein kleiner drahtiger Franzose. Sein
Vater arbeitete in der Botschaft. Die Familie lebte seit einigen Jahren in
London und Louis hatte über seinen Vater schon öfters Kontakt mit Mycroft
Holmes gehabt. Louis hatte ihm schon mehrere Dokumente übersetzt, für die
Mycrofts Sprachkenntnisse einfach nicht ganz ausreichten. Dieser entlohnte ihn
damit, dass er ihm neben der Schule Zeichenunterricht geben ließ. Louis war
sehr begabt, sein Vater hatte jedoch nicht genügend Geld, um seinen Sohn
entsprechend zu fördern. Diese Begabung gedachte ich mir jetzt zu nutze zu
machen. Louis sollte mir mehrere Skizzen von Mycroft Holmes anfertigen.
Vielleicht konnten sich die Ticketverkäufer an den Bahnhöfen gegen Vorlage
solch einer Skizze und eines Schillings an ihn erinnern.
Es klingelte und Mrs. Hudson ging zur Haustür,
um zu öffnen. „Ah, guten Tag James, “ sagte sie und ließ den ersten der
„Irregulars“ herein. Ich ging ebenfalls in den Flur und begrüßte ihn. „Guten
Tag Mrs. Hudson, und guten Tag Doktor!“
Es klingelte wieder und William erschien
zusammen mit sechs anderen Jungen. „Louis kommt etwas später, er muss noch etwas
erledigen“, erklärte William. „Gut, wir gehen schon mal nach oben.“ „Der Tee
kommt gleich. Vielleicht hilft mir jemand beim Tragen?“
Als wir uns oben zusammengesetzt hatten, bekam
jeder erst einmal eine dampfende Teetasse in die Hand. Mrs. Hudson hatte sich
zu uns gesellt und gemeinsam erläuterten wir den erstaunten Jungen, was bisher
geschehen war und welche Gedanken wir uns gemacht hatten. Ich zeigte ihnen den
Brief und verteilte die Zeitungen an sie. So konnten wir schneller
herausbekommen, aus welchen Zeitungen die Wörter auf der Botschaft
ausgeschnitten waren. Louis war unterdessen auch gekommen. Er saß am Tisch und
versuchte Mycroft Holmes möglichst genau zu zeichnen.
Wir anderen suchten schweigend. Auf einmal rief
James aus: „Ich glaube ich habe was. Hier: ‚Suchen’ und ‚wieder’ sind aus
dieser Meldung der Times.“ „und hier: ‚nicht’, ‚oder’ und ‚sehen’ aus dieser
Meldung.“ „Seinen Namen haben sie wahrscheinlich aus dem Strand-Magazin. Wer
hat das?“ „Ich Doktor Watson, “ antwortete Harry. „Sieh bitte mal nach.“ „Ja,
Sie haben recht. Hier: dieselbe Schrift.“ Nach einer Weile hatten wir auch die
anderen Artikel nach den noch fehlenden Artikeln durchsucht. Sie stammten alle
entweder aus dem Strand-Magazin oder aus der Times.
„Ich denke, wir haben jetzt einen weiteren
Anhaltspunkt für unsere Suche. Wir sollten uns aufteilen. Fünf durchsuchen die
Mülleimer der Hotels in der Nähe der großen Fernbahnhöfe. Die anderen vier
gehen mit mir zu den Bahnhöfen und versuchen herauszufinden, wohin und von
welchen Bahnhof Mycroft abgereist ist. Als erstes gehe ich aber zur Bank und
wechsele Geld für euch. Ihr könnt euch in der Zwischenzeit noch etwas essen.
Mrs. Hudson hat noch etwas für euch.“ „Kommt mit herunter, dann bekommt ihr
Butterbrote.“ Wie sieht es bei Dir aus, Louis?“ fragte ich. „Ich brauche noch
ein bisschen, Doktor Watson: Ich bleibe hier oben.“