Antwort auf die
Märchen-Challenge (Februar/März 2004) Besser spät, als nie J
Titel: Goldwind und Jadetau
Autor: Lady Charena
Fandom: Kung Fu – Im Zeichen des Drachen
Paarung: Caine, Peter
Rating: Gen, POV Caine
Summe:
Peter bittet seinen Vater, ihm
eine Geschichte zu erzählen (spielt im Anschluss an die Episode „Bardo/Caine
und der tiefe Sturz“, in der Peter nach dem Fall von einer Treppe einige Zeit
im Koma liegt, bevor es seinem Vater gelingt, ihn daraus zu wecken.)
Disclaimer:
Die Rechte der in dieser Fan-Story verwendeten geschützten Namen und Figuren
liegen bei den jeweiligen Inhabern. Eine Kennzeichnung unterbleibt nicht in der
Absicht, damit Geld zu verdienen oder diese Inhaberrechte zu verletzen.
„Goldwind und Jadetau“ stammt aus der Miniaturen-Sammlung
„Orchidee und Pflaumenblüte“ von Carla Steenberg und Hu Hsiang-Fan und wurde
von Tschin Guan (1049-1100) verfasst.
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To shine like jade. To resound like
windchimes. These things are often hard to achieve. But to try for them is to
be worthy of them. (Peter „The Chalice of I’Ging“)
Zu glänzen wie Jade. Zu klingen wie ein Glockenspiel. Diese Dinge
sind oft schwer zu erreichen. Doch indem wir es versuchen, erweisen wir uns
ihrer würdig. (Peter „Caine und der Kelch von I’Ging“)
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Ich beobachte meinen Sohn. Während Peter im Moment eins mit sich
zu sein scheint, versuche ich mir über meine Gefühle Klarheit zu
verschaffen.
Es erleichtert mich, dass er sich entschieden hat, während seiner Rekonvaleszenz bei mir und nicht bei seiner Pflegefamilie zu wohnen. Sehr zur Enttäuschung seiner Pflegeeltern... vor allem Paul erhob heftigen Einwand. Er glaubt nicht, dass mein Sohn bei mir sicher ist. Noch immer ist unklar, ob der Mann, der zweimal versuchte Peter zu töten, Komplizen hatte, die seine Verhaftung rächen könnten. Paul wollte wie im Krankenhaus einen Polizisten zu Peters Schutz vor die Tür stellen. Ich nahm davon Abstand, ihn daran zu erinnern, dass diese Maßnahme sich bereits im Krankenhaus als sinnlos erwiesen hatte. Bewaffnet und verkleidet als Patient hatte der Mann den Beamten angegriffen und fast getötet. Hätten Paul Blaisdells Instinkte – mochten es nun die des Polizisten oder des Söldners gewesen sein - ihn nicht zurückgerufen, wäre Peter jetzt tot. Und ich mit ihm, denn in der tiefen Trance, in der ich mich befand, um das Leben meines Kindes zu retten, wäre ich einer Kugel gegenüber hilflos gewesen. Annie griff ein, bevor es zu heftigeren Worten zwischen Peter und Paul kommen konnte. Es fiel ihr sichtlich schwer, Peter in meine Obhut zu entlassen – wie es jeder Mutter schwer fallen musste, nicht für ihr Kind sorgen zu können. Aber sie gestand Peter zu, seine eigene Wahl zu treffen. Sie verlangte nur sein Versprechen, dass er sich regelmäßig bei ihr melden würde und sie ihn regelmäßig besuchen kommen konnte.
Ich frage mich, ob sie fühlte – verstand – wie groß mein
Verlangen ist, Peter jetzt bei mir zu wissen... Noch nie in meinem Leben hatte
ich so große Angst, wie in der Zeit als Peter im Koma lag und ich spürte, dass
er nicht zu uns zurückkommen wollte. Er hatte sich so... verirrt... in dem
Gespinst aus Zorn und Schmerz, dass er sich einfach aufgab. Nicht die
Kopfverletzung hätte ihn getötet, sondern die unsichtbaren Wunden in seinem
Herzen und seiner Seele. Frischere Verletzungen, für die ich die Verantwortung
trug und trage und andere, ältere Verwundungen, die von unserer Trennung
verursacht worden waren.
Ich spüre die Schatten noch immer. Sie sind überall um mich herum.
Wieder einmal habe ich Peter fast verloren. Wieder einmal war ich
nicht bei ihm, als er sich in Gefahr befand. Ich konnte ihn nicht schützen, als
dieser... Mörder... ihn von der Treppe stieß.
‚Ich habe keinen Vater. Er hat mich verlassen. Er hat mich alleine
gelassen. Ich bin allein. Siehst du nicht, wie allein ich bin?’
Ich weiß, dass Peter nicht bei sich war, als er diese Worte
sprach. Angst, Wut und das bittere Gefühl versagt zu haben erfüllten ihn, als
er mich angriff. Er... versteht nicht, dass manchmal alles, was wir tun können,
ist... es zu versuchen. Dadurch erweisen wir uns als würdig. Doch ich weiß,
dass er meine Worte jetzt nicht hören will, dass er noch nicht bereit ist,
seine Schuld loszulassen. Er fühlt sich verantwortlich für den Tod seines
Freundes Donaldson, da sein Kollege nur Augenblicke vor seiner Ankunft getötet
wurde. Mein Sohn ist mir ähnlicher, als er glaubt. Ich trug die Schande, nicht
in der Lage gewesen zu sein, meinen Sohn aus den brennenden Tempelruinen zu
befreien, fünfzehn lange Jahre als zentnerschwere Last auf meinem Herzen.
Selbst mit der Realität meines Kindes vor Augen bin ich nicht wirklich frei
davon.
Genau wie Peter kann ich meine Dämonen nicht vertreiben. Ich kann
nur hoffen, die Tür verschlossen zu halten, so dass meine Tiger sich nicht
befreien können.
Ich bin auch nur ein Mensch.
Peter sieht auf, den bandagierten Kopf leicht zur Seite geneigt.
Er hört auf, mit seiner Hand Kreise auf der Oberfläche des winzigen Koi-Teiches
zu ziehen, den ich als Überraschung nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus
für ihn angelegt habe.
Ich lege die Flöte auf der Brüstung ab und kehre an seine Seite
zurück. Seine Augen weiten sich erstaunt, als ich vor ihm in die Hocke gehe und
beide Hände um sein Gesicht lege. Dann lächelt er. Wassertropfen flirren durch
die Luft, glitzern im Sonnenschein, als er meine Geste kopiert. Seine Hände
sind unerwartet kühl an meiner Haut und ich unterdrücke einen unwillkürlichen
Schauer. Die Kälte seiner Berührung lässt mich an den Moment denken, als ich in
der Notaufnahme zum ersten Mal sein blutbeschmiertes Gesicht berührte... Ich
blinzle, um die Erinnerung zu vertreiben.
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen, Paps. Was ist
los?“
Peter klingt beunruhigt und ich tadle mich selbst dafür, für einen
Moment vergessen zu haben, wie sensibel er auf meine Stimmungen reagiert.
Obwohl es Zeichen ist, dass das Band zwischen uns wächst und wir uns näher
kommen, wünschte ich mir in Augenblicken wie diesem... doch Wünsche sind nicht
was zählt auf unserem Lebensweg. Was zählt, ist... ist nur, dass Peter jetzt
bei mir ist.
Ich weiche seinem Blick aus. „Es ist alles in Ordnung, Peter.“ Es
sind die gleichen Worte, der gleiche Tonfall, die ich gebrauchte, wenn mich
Alpträume – die Drachen unter Peters Bett – an die Seite meines Kindes riefen.
„Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.“
Er lächelt, doch das Lächeln ist tolerant. Er spürt, dass ich ihm
ausweiche, doch entscheidet sich dafür, meine Antwort zu akzeptieren. Peter ist
kein Kind mehr, obwohl ich noch immer von Zeit zu Zeit den Zwölfjährigen vor
mir sehe, der mir einst genommen wurde.
Ich schließe meine Augen und öffne meine Sinne, konzentriere mich
auf die Harmonie, die uns umgibt.
Das ferne, beständige Rauschen des Verkehrs, Stimmen, Musik,
Schritte, die Lebendigkeit der Passanten – auf der Straße etliche Stockwerke
unter uns. Ich atme Sonnenlicht ein, das nach den Blumen schmeckt, die meinen
Balkon schmücken. Das leise Geräusch des sich teilenden Wassers, als die Koi
neugierig die Oberfläche durchbrechen, um zu sehen, wo ihr neuer Spielkamerad
abgeblieben ist. Eine sanfte Brise, die aus dem Nichts kommt und wieder geht
und sich für einen Augenblick in meinem Haar verfängt. Die Bewegung der Luft,
das Rascheln seiner Kleidung als Peter sich vorbeugt und seine Stirn gegen
meine presst. Die Bandage fühlt sich rau und fremd gegen meine Haut an. Ich
lausche auf den langsamen, entspannten Rhythmus seines Atems; das Schlagen
seines Herzens, das ich so deutlich wahrnehme, das meines eigenen.
Die Schatten weichen zurück, zumindest für eine gewisse Zeit werde
ich von ihnen befreit sein.
Das alles dauerte nicht länger als ein paar Sekunden und ich öffne
meine Augen, als Peter leise seufzt. Er küsst mich auf die Stirn und setzt sich
dann auf, seine Hände fallen von meinem Gesicht und ich spüre den Verlust wie
einen Nadelstich.
Langsam ziehe auch ich meine Hände zurück, gebe ihn frei.
„Vielleicht sollten wir nach drinnen gehen“, schlägt Peter vor,
den Blick auf die Koi gerichtet, die wieder ihre endlosen Kreise ziehen. Ich
frage mich, was er sieht. Nur seine eigene, leicht verzerrte Reflektion? Oder
erinnert er sich an den Tempel, an die Lektion über das Prisma? Darüber, wie
uns das Wasser als Medium dient, um durch die Augen eines geliebten Menschen in
eine andere Realität zu blicken? „Ich sollte mich vielleicht hinlegen.“
Meine Besorgnis kehrt zurück. „Fühlst du dich nicht wohl?“ Es
sieht meinem quirligen Sohn nicht ähnlich, sich freiwillig auszuruhen.
Peter blickt mich von der Seite an. Ein etwas schiefes Lächeln
spielt um seine Lippen. „Es geht mir gut. Wirklich.“ Er zuckt mit den
Schultern, eine Geste, die er von mir gelernt hat. „Ich dachte nur du... du
siehst müde aus, Paps. Und ich dachte, wenn... wenn ich...“ Er blickt weg.
„...brav bin und mich ausruhe, wie Dr. Sabourin es angeordnet hat, dann...“ Er
bricht ab. „Ich will einfach nicht, dass du dir so viele Sorgen um mich
machst.“
Es ist plötzlich, als wären unsere Rollen vertauscht. Als wäre
Peter derjenige, der tröstet und beruhigt. Als wäre er der Stärkere von uns
beiden und ich derjenige, der verwundet ist... Aber vielleicht spürt er nur,
dass auch ein Vater manchmal Trost und Beruhigung braucht. Ich lege die Hand
auf sein Knie und er sieht auf. „Es geht mir gut. Wirklich.“
Peter lacht, als er seine eigenen Worte, seinen eigenen Tonfall,
wiedererkennt. Sein Lachen erfüllt mich mit Wärme und ich lächle. Er legt seine
Hand auf meine, drückt sie. „Ich lege mich hin und du erzählst mir eine
Geschichte. Wie früher.“
Für einen Moment nimmt mir der Schmerz den Atem. ‚Erzählst du mir
eine Geschichte?’ Es ist der Junge, den ich vor mir sehe, der zu mir spricht.
Peter ist wieder zehn, sieben, fünf Jahre alt, sein kleines Gesicht mir
vertrauensvoll zugewandt, ein allabendliches.... ja fast heiliges... Ritual.
Peter weiß nicht, dass ich ihm schon lange vor seiner Geburt Geschichten
erzählte. Es ist eine Vorliebe, die er mit seiner Mutter teilte. Während Lauras
Schwangerschaft waren wir nur wenige Nächte getrennt, wenn eine spezielle
Zeremonie mich in den Tempel rief oder ich Arbeit gefunden hatte und nur die
Abende für meine Studien mit Ping Hi blieben. Doch wenn ich bei ihr war, dann
pflegte sie abends in meine Arme zu kommen und ich erzählte ihr eine der
Geschichten, die ich als Kind von meinem Vater oder in einem der Tempel gehört
hatte, in denen ich aufgewachsen war. Es waren magische Momente und ich
erinnere mich so deutlich, als wären seither nicht fast dreißig Jahre
vergangen. Ich muss nur die Augen schließen, um die Wärme ihrer Berührung zu
spüren, den zarten Jasminduft ihres Lieblingsparfums – und das kostbare neue
Leben, dass sie in sich barg...
„Paps? Woran denkst du?“
Peters Stimme holt mich aus meinen Erinnerungen. Ich schüttle den
Kopf, stehe auf und strecke die Hand nach ihm aus. „Lass’ uns gehen.“ Er sieht
mich prüfend an, dringt aber nicht weiter in mich und dafür bin ich ihm
dankbar.
Ich hatte eines der hinteren Zimmer für Peter präpariert, als sich
der Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus näherte. Zwar ist der Raum sehr
viel kleiner als das Schlafzimmer in seinem Appartement, doch liegt es weit
genug vom Hauptraum und der Apotheke entfernt, so dass Peters Ruhe nicht von
meinen Patienten gestört werden kann.
Sonnenlicht fällt in schmalen Streifen durch die Blenden vor dem
Fenster, trotzdem ist es angenehm kühl. Die dicken Mauern und der Schatten des
Nebengebäudes schirmen die Hitze ab.
Ich beobachte Peter, bemerke wie er auf dem dünnen Futon hin- und
herrutscht, um es sich bequem zu machen und weiß doch, wie schwer es ihm fällt,
still liegen zu müssen. Peter hasst es, krank zu sein. Und er bringt die
Menschen in seiner Umgebung dazu, es zu hassen, dass er krank ist... Annie
sagte dies mit einem Lächeln, doch ich kenne meinen Sohn.
„Nun? Worauf wartest du, Paps?“ Die Arme hinter dem Kopf
verschränkt, blickt Peter erwartungsvoll zu mir hoch.
Ich setze mich neben ihm auf dem Boden. „Es gibt eine Geschichte,
die deine Mutter besonders geliebt hat“, beginne ich. Peter sieht mich erstaunt
an. Es kommt selten vor, dass ich von mir aus auf Laura zu sprechen komme, doch
sie in Peters Alpträumen angetroffen zu haben, hat mir in Erinnerung gerufen,
wie wenig er über sie weiß... wie wenig er über sie wissen kann. Nach ihrem Tod
fiel es mir schwer, über sie zu sprechen – und später, als Peter älter war und
nach seiner Mutter zu fragen begann, wollte ich nicht über Laura sprechen, um
seine Trauer und Sehnsucht nach der Frau, die er nur so kurz kennen lernen
durfte, nicht zu verstärken. Oder vielleicht auch nur, um mich meinem eigenen
Schmerz nicht stellen zu müssen.
Ich lächle und seine Augen, sein ganzes Gesicht strahlt auf, als
würde es die Sonne reflektieren. Er weiß nicht, wie sehr er in solchen Momenten
seiner Mutter gleicht...
„Es ist die Geschichte von Goldwind und Jadetau. Ich habe sie als
kleiner Junge im Tempel meines Vaters gehört.“
„In Zhang Zhou?“, unterbricht mich Peter.
„Ja. Aber wenn du es vorziehst, mir Fragen zu stellen...“
„Nein, nein“, entgegnet er hastig. „Ich bin schon still.“
Ich blicke Peter an, doch ich sehe in eine andere Zeit, als ich zu
erzählen beginne.
„Es geschah vor zehntausendmal zehn Jahren, als die Sterne am
Himmel noch sprechen konnten und Verbindung zur Erde hatten. Sie konnten
sprechen und singen, lachen und weinen, kannten Glück und Trauer, wie die
Menschen auf Erden. Vielleicht gilt das auch heute noch, nur wissen wir es
nicht, weil wir sie nicht mehr hören. Weil wir sie aber sehen, haben wir ihnen
Namen gegeben, um sie zu unterscheiden. Ob der „Silberfluss“ auch in ihrer
Sprache so heißt, werden wir nie erfahren, eine Geschichte ist aber wahr, und
die haben die Spatzengötter den Menschen auf Erden erzählt: die Geschichte von
dem Hirtenjungen und dem Webermädchen; „Goldwind“ und „Jadetau“ sind ihre
Himmelssternnamen. Goldwind hütete seine Ziegenherde auf den Matten des
Tai-Berges, als eine jadeschöne himmlische Prinzessin herabschwebte, um auf
seiner Weide Wiesenblumen zu pflücken. Goldwind half ihr und so wurden sie
miteinander bekannt, sangen und tanzten, und Jadetau erzählte Goldwind von den
Sternen und Feen, von Genien und Göttern im Himmel, und er lehrte sie die
Sitten und Bräuche der Menschen auf Erden. Wenn Goldwind mit seiner Herde
weiterzog, schwebte Jadetau auch zu den nächsten Weidegründen hinab, um bei ihm
zu sein, den zarten Klängen seiner Flöte zu lauschen und von ihm immer neue
erregende, wundersame Geschichten der Erdenmenschen zu hören. Jadetau wäre
allzu gern auf der Erde geblieben, aber das war nicht erlaubt. Immer wenn die
Sonne sich neigte, musste sie geschwind in den Himmel zurück, damit ihr Fehlen
nicht bemerkt würde. Goldwind wäre allzu gerne mit ihr gezogen, aber er durfte
seine Herde nicht verlassen und musste auf Erden bleiben, solange er ein Mensch
war. So vergingen Licht und Schatten. Dem königlichen Vater der Prinzessin war
von deren Ausflügen zur Erde berichtet worden, und bald wurde ihm zur
Gewissheit, was er voller Sorge und Angst beobachtet hatte. Er liebte Jadetau
sehr und sein Herbstherz wurde schwer und traurig. Eine Verbindung zwischen
Jadetau und Goldwind durfte es nie geben und so befahl er der Prinzessin, die
Himmelswege nicht mehr zu verlassen, und seinen Dienern, Jadetau bei Tag und
Nacht zu beobachten. So vergingen Licht und Dunkelheit. Goldwind und Jadetau
glaubten mit aller Macht ihrer Herzen an ihre Bestimmung und ergaben sich
demütig ihrem Schicksal. Ihre Liebe aber wuchs von Tag zu Tag und wurde zu
einer wundersamen Kraft: Goldwind verwandelte sich in einen Stern und stieg –
einem Adler gleich – zum Himmel auf, um dort, in den endlosen Weiten, seine
Lyra zu suchen. Als er dem himmlischen Königspalast schon sehr nahe war,
meldeten die Wächter Goldwinds Erscheinen im Sternenheer, und der König wurde
sehr traurig. Einer Verbindung seiner einzigen geliebten Tochter mit Goldwind
konnte er nicht zustimmen, ohne sie zu verlieren. Er glaubte nicht an Goldwinds
Verwandlung und fürchtete, beide würden den Himmel verlassen und zur Erde
ziehen und Jadetau wäre dem Himmel für immer verloren. So sann er auf einen
Ausweg, Tag und Nacht, bis er endlich die Lösung gefunden hatte: Er warf
zehntausend Sterne zwischen die Liebenden – so entstand der „Silberfluss“, den
die Menschen „Milchstraße“ nennen und heute noch am Himmel erkennen, wenn die
Sterne blinzeln. Jadetau sah den Silberfluss und die Sternenwächter des Königs
und erkannte sogleich, dass es keinen Weg mehr zu Goldwind gebe. Ihre
Augentruhe füllte sich mit Tränen, sie weinte Tage und Nächte ohne Unterlass. Nach
langer Zeit zeigte der König endlich Erbarmen und gestattete Goldwind und
Jadetau, den Silberfluss einmal im Jahr zu überqueren, um beieinander zu sein.
Aber der lange Weg über die zehntausend Sterne war beschwerlich, und den
Liebenden blieben nur wenige gemeinsame Stunden. Damit der Silberfluss in
dunkler Nacht auf heimlichen Pfad nicht endlos würde, dafür sorgten die gütigen
und mitfühlenden Spatzengötter, und sie flogen eine Brücke, den Liebenden den
Weg zu verkürzen.“
„Das war... das war wirklich eine wunderschöne Geschichte.“ Peter
öffnet die Augen und sieht mich an. „So etwas hast du mir nie erzählt, als ich
ein Kind war.“
Ich lächle und schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht, dass du mit
zehn Jahren eine Liebesgeschichte geschätzt hättest.“
Peter sieht mich nicht an, sein Blick ist an die Decke gerichtet.
„Diese Geschichte... das sind Mom und du, nicht wahr? Ich meine... klar, euch
trennt kein Silberfluss und Mom war auch keine Jadeprinzessin, aber...“ Er
bricht ab. „Entschuldige, das war gedankenlos von mir, ich wollte nicht...“
Ich berühre seine Schulter, um ihn zu beruhigen. „Peter – du hast
nichts falsches gesagt. Es ist in Ordnung.“
„Du vermisst sie sehr, nicht wahr? Sogar nach all den Jahren.“
Peter sieht mich an. „Ich meine, ich vermisse sie auch. Manchmal. Aber nach
Moms Tod hatte ich immer noch dich. Das hat es leichter gemacht. Du hattest
niemand.“
„Ich hatte dich, Peter. Dich und die Gemeinschaft im Tempel.“ Ich
streiche den offenen Kragen seines Hemdes glatt. „Peter... es gibt auch für
deine Mutter und mich einen Tag im Jahr, an dem wir uns ganz nahe sind.“
„Wie meinst du das? Welcher Tag?“
„Dein Geburtstag.“ Ich beuge mich über ihn und küsse ihn auf die
Stirn. „Und jetzt, nachdem du deine Geschichte erzählt bekommen hast, solltest
du auch versuchen, zu schlafen. Du brauchst noch sehr viel Ruhe.“
„Na gut.“ Peter greift nach meiner Hand und drückt sie. „Übrigens
habe ich verstanden, was du mir mit dieser Geschichte sagen wolltest – du hast
doch immer eine Lektion für mich parat, Paps.“
„Ach wirklich?“
„Manchmal werden einem Hindernisse in den Weg gelegt und man kann
jemand, der einem viel bedeutet, nicht mehr erreichen – und man kann nichts
dagegen tun, als sich seinem Schicksal hingeben.“ Er sieht mich erwartungsvoll
an.
„Mein weiser Sohn“, erwidere ich mit einer kleinen Verbeugung.
Peter grinst. „Kein Wunder, bei dem weisen Vater.“ Er gähnt.
„Okay, vielleicht bin ich doch ein wenig müde.“ Er dreht sich auf die Seite und
bald darauf verraten mir seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge, dass er schläft.
„Wenn beider Liebe ewig hält, wird der Verzicht aufs
Beieinandersein Erfüllung.“ Es ist der Schlusssatz der Geschichte von Goldwind
und Jadetau. Doch ich bin sehr froh, nicht mehr auf meinen Sohn verzichten zu
müssen.
Ende