"Atropos"
von Jimaine
Rating: PG,
non-slash
Archiv: im Fanfiction Paradies und im
gepflegten Sumpf von T'Len & Lady Charena
Spoiler: Außer dem Hauptthema
"Bombshells" (Die Monroe kommt) noch Referenzen zu "The More I
See You" (Das letzte Wiedersehen), "Operation
Friendship" (Operation Freundschaft), "Sons and
Bowlers" (Das Blaue Wunder) und
"Who Knew?" (Nur der Himmel weiß) und andere. Halt der Nachteil,
wenn eine Story in der elften Staffel
angesiedelt ist. Es ist so viel davor! J
Disclaimer: Die Serie gehört 20th Century
Fox, alle elf Staffeln davon und jegliche Rechte, die damit
einhergehen. Ich beanspruche nichts für
mich und verdiene ganz gewiß kein Geld damit – jemineh,
schön wär's!!!
A/N: (1) In der griechischen Mythologie
war Atropos (oder Aisa) eine der drei Moiren/Moirae/Moirai
Thanatoio (Göttinnen des Todes). Ihre
Namen, Klotho, Lachesis und Atropos, bedeuten "die Spinnerin",
"die Zuteilende" und "die
Unabwendbare". Jede hat ihre Aufgabe: Klotho, die jüngste, spinnt den
Lebensfaden und bestimmt die
Geburtsstunde; Lachesis mißt den Faden ab und spinnt die Ereignisse
des menschlichen Lebens; Atropos
entscheidet schließlich über den Todeszeitpunkt und schneidet den
Lebensfaden durch.
(2) Es wird in der Serie nie gesagt, wann
genau Hawkeye in Korea ankam, außer daß es 1950 gewesen
sein muß. Da der U.S. Congress das Public
Law 779, den Doctors Draft Act, erst am 1. September '50
verabschiedet hat, muß es also danach
gewesen sein. Ich habe mir den Oktober ausgesucht.
Für alle, die die Folge nicht kennen,
hier die Zusammenfassung: Ein von Hawkeye und Winchester in
die Welt gesetztes Gerücht, Marilyn
Monroe würde das 4077th besuchen, entwickelt sich zur Lawine
und die beiden Ärzte müssen alle Register
ziehen, um die Katastrophe abzuwenden, zumal ein
hochrangiger General sich den Starbesuch
nicht entgehen lassen will.
Währenddessen wird B.J.s Angelausflug
unterbrochen, als er einem Helikopterpiloten hilft, einen
Verletzten aus einem Kampfgebiet auszufliegen.
Bereits wieder in der Luft entdecken sie zwischen den
Büschen einen weiteren Verwundeten; weil
sie nicht landen können, läßt B.J. ihm das Seil herunter. Sie
werden beschossen und B.J., der schon
runterklettern wollte, muß den Mann losschneiden und
zurücklassen. Später sucht er in den
anderen MASH-Einheiten und Verbandsplätzen vergeblich nach
dem Mann. Der Gipfel des Ganzen ist, daß
ihm der gescheiterte Rettungsversuch dank des Berichts des
Piloten auch noch einen Orden für
heldenhaftes Verhalten einbringt.
***********************
Blutrot senkte sich die Sonne der
Hügelkette entgegen, versprach baldige Milderung der seit Tagen
unerträglich hohen Temperaturen. Die
Hitze an sich wäre ja zu ertragen, aber während des Hanyorum –
der gerade beginnenden, durch hohe
Niederschläge geprägten zweiten Hälfte des koreanischen
Sommers – kam die Luftfeuchtigkeit hinzu.
Wie er durch die Hügel in Richtung Fluß wanderte, den von
ortsansässigen Wäscherinnen ausgetretenen
Pfad entlang durch das dürre kniehohe Gras, zog er das
Hemd aus und knotete sich die Ärmel um
die Hüften. Aber helfen tat das nicht, man war immer
klitschnaß, egal ob man sich bewegte oder
nicht, rund um die Uhr. Auch nachts, wenn sich zusätzlich
die Scharen von Moskitos auf alles und
jeden stürzten. Nein, dem Reisebüro daheim in Crabapple Cove
würde er von Korea – egal zu welcher
Jahreszeit – abraten.
Die schon erheblich langen Schatten
verschmolzen allmählich mit dem Zwielicht der Dämmerung.
Konturen verschwammen wie in einem Aquarell
aus Nichtfarben, überlagert von einem Hauch
Silbergrau. Je näher er seinem Ziel kam,
desto lauter wurde das Quaken der Frösche, bildete eine zweite
Stimme zum immerpräsenten Zirpen der
Grillen.
Nach weiteren fünfzig Metern kam der Fluß
in Sicht. Mehr ein Flüßchen als ein Strom, der den Namen
verdiente, schlängelte sich der
Wasserlauf durch die Hügel dem Imjin entgegen.
Hangabwärts beschleunigten sich seine
Schritte, schon hörte er das leise Gurgeln des Wassers. Sehr
gut, denn sehr viel weiter hätte er nicht
mehr gekonnt. Seine Kondition verdiente die Bezeichnung nicht,
die einzige Disziplin, bei der er gut im
Training lag, war das Dauerstehen am OP-Tisch. Auch war es in
dieser Nachbarschaft wenig ratsam, nach
Einbruch der Dunkelheit zu Fuß unterwegs zu sein.
Landminen konnten einen beschaulichen
Mondscheinspaziergang sehr schnell im Jenseits enden lassen.
Er blieb stehen. Unter einer
schiefgewachsenen Birke parkte der Jeep, da konnte der Fahrer nicht weit
sein, doch unten am Ufer, auf einem der
großen Steine, wo sonst nasse Kleidung trocknete, fand er
zunächst nur einen Eimer mit vier
Forellen. Suchend blickte er sich um und wischte sich gleichzeitig
Schweiß aus den Augen. Das leichte
Brennen des Salzes verflog schon im nächsten Moment. Eigentlich
was dies ein hübsches Fleckchen
hier...die sanfte Strömung und das breite Kiesufer erlaubten den
koreanischen Frauen ein relativ bequemes
Arbeiten, wenn nicht gerade wochenlanger heftiger Regen
alles unter Wasser setzte. Aber heute
plätscherte das Gewässer gemächlich vorbei, und wie schon in
der Zeit, als dieses Land noch keinen
Namen hatte und Angehörige des gleichen Volkes sich noch nicht
wegen einiger Quadratkilometer bis aufs
Blut bekämpften, polierte der mitgeführte Sand die glatten
Felsen, vertiefte das Flußbett.
Kies knirschte unter seinen
Armeestiefeln, am gegenüberliegenden Ufer erhob sich eine kleine Schar
Enten schnatternd in die Luft. In
perfekter Keilformation flogen sie landeinwärts, dunkle Silhouetten
gegen den violett-rötlichen Abendhimmel.
Sie gehörten ebenso sehr hierher wie die U.S. Army es nicht
tat. Er bückte sich und schöpfte Wasser
mit beiden Händen; das kühle Naß war nach diesem Marsch
belebender als der trockenste Martini.
Den Rest ließ er schließlich über sein erhitztes Gesicht laufen.
Da der Fluß hier eine Biegung machte und
seine Sicht stromauf– wie –abwärts eingeschränkt war,
beschloß er, dem Wasser zu folgen. Die
Chancen standen fünfzig-fünfzig. Weit weg konnte er
jedenfalls nicht sein. Ein Angler
entfernte sich nie weit von seinem Fang.
Dies bestätigte sich nach etwa hundert
Metern. B.J. Hunnicut stand bis zu den Knien im Wasser, nur in
T-Shirt und hochgekrempelter Hose;
Schuhe, Socken und Weste hatte er auf dem flachen Felsen
abgelegt, der an dieser Stelle weit in
den Fluß hineinragte.
Der ideale Platz für jemanden, der allein
sein wollte. Er glaubte sich zu erinnern, daß Henry Blake ihn
seinerzeit entdeckt hatte und nur schwer
zu überzeugen gewesen war, das Geheimnis mit seinen
Kollegen zu teilen, die es nur wissen
wollten, weil Henry solch ein Gewese darum machte und nicht,
weil sie selber leidenschaftliche Angler
waren. Henry zappeln zu sehen war immer jede Minute der
Stichelei wert gewesen. Trapper und er
hatten so manche Leidenschaft geteilt, einander eingeschlossen,
aber Angeln hatte nie dazugehört. Also
hatten sie gemeinsam Golf gespielt; die Schläger verstaubten seit
Sommer '51 unter seinem Feldbett.
"Ich hoffe, du überläßt den Fang
nicht Igor. Der kocht die beste Forelle glatt in Dosenmilch und
serviert sie mit einem Brei aus
Trockenkartoffeln. Und Erbsen, die man als Gewehrkugeln verwenden
könnte."
Der Angesprochene reagierte nicht, stand
reglos wie eine Statue, deren Beine das Wasser umspülte.
"Hey, Angler, welches Schicksal hast
du für die vier Fische vorgesehen? Die würden es nämlich gerne
erfahren, damit sie sich seelisch darauf
vorbereiten und eventuell auf die Genfer Konventionen berufen
können." Er hoffte, mit einer
Extradosis Humor eine Antwort aus B.J. herauszukitzeln, doch dieser
schwieg sich hartnäckig aus. "Hör'
mal, ich glaube nicht, daß du heute noch was fängst. Auch Koreas
Fische brauchen ihren Schlaf."
"Was willst du?" fragte der
andere Arzt geradeheraus, kam jeglichem weiteren Smalltalk zuvor. Er holte
die Angelschnur ein und prüfte den Haken
eingehend, um ihn dann erneut auszuwerfen. Alles ohne sich
umzudrehen.
"Deinen Jeep." Langsam schlenderte er auf ihn zu. "Heute kam der Milchpulverlieferant mit der
monatlichen Rechnung und ich habe gestern offenbar meine Brieftasche im Handschuhfach
liegenlassen. Dummer Fehler. Kennst mich ja...wenn der Kopf nicht angewachsen wäre..."
"Der Jeep. Aha." Aus B.J.s
Haltung war zu erkennen, daß es ihm weniger darum ging, etwas zu fangen
als ungewünschte Gesprächspartner von
sich fernzuhalten. Sein Rücken war eine Wand, effektiver
gegen Feindbeschuß als Sandsäcke. Die
Leine driftete lose in der Strömung. Gelegentlich sah Hawkeye
etwas Farbiges, Glitzerndes an der Wasseroberfläche
auftauchen und dann wieder in den Wellen
verschwinden.
Im Plauderton fuhr er fort,
"Außerdem war es ein netter Abendspaziergang und ich brauchte die frische
Luft nach dem heutigen ach-so
ereignisreichen Nachmittag." Hier erst drehte B.J. den Kopf herum.
Trotz der fortschreitenden Dämmerung und
den schwachen Lichtreflexen, die von der
Wasseroberfläche zurückgeworfen wurden,
konnte Hawkeye seinen alarmierten Gesichtsausdruck
unter der breiten Hutkrempe sehen.
"Verwundete...? Aber G-2 hatte doch
angekündigt, daß für heute definitiv keine Kämpfe in unserem
Sektor zu erwarten seien!"
Abermals konnte Hawkeye ihn beruhigen.
"Keine Panik, die einzigen Notfälle waren Goldman und Igor.
Goldman hat sich mit einem Hammer auf den
Daumen gehauen und den Balken fallenlassen, der prompt
auf seinem Fuß landete und ihm einen Zeh
brach. Der gute Igor dagegen hat sich nur am eigenen
Kochtopf die Hand verbrannt.
Nichts", endete er und kam nun unmittelbar am Rand des Wassers zum
Stehen, "was selbst Klinger nicht
behandeln könnte. Ein Trupp britischer Soldaten ist
zum Tee
vorbeikommen...wirklich
nichts Dramatisches. Also, die Inseleuropäer sind doch wirklich eine
Bereicherung für unseren
netten kleinen Krieg-Schrägstrich-Polizeieinsatz. Margaret war in jede Silbe
verliebt, die aus dem Mund
dieses Private Micklewhite kam. Er hätte ebensogut aus dem Telefonbuch
vorlesen können." Ein
Moskito summte dicht an seinem Ohr vorbei. Sie sollten sich beeilen, zurück ins
Camp und unter die
schützenden Netze zu kommen. Aber... "Ach ja..." Fast hätte er das
Wichtigste
vergessen. "Und du mußt
deine frischgewaschenen Socken noch mal waschen, denn die Schwestern
nutzen die freie Zeit für
eine gründliche Inventur. Sie waren zu dritt. Ich hatte keine Chance. Baker,
Bigelow und Kellye haben mich
überwältigt und all die chirurgischen Klammern befreit, die du in den
letzten Monaten aus dem OP
gekidnappt und als Wäscheklammern mißbraucht hast."
"Du bist doch nicht etwa zu Fuß
gekommen?" Ohne auf das Gesagte einzugehen, holte B.J. die
Angelschnur abermals mit geübten
Handgriffen ein und entschied nach einem letzten sehnsüchtigen
Blick aufs Wasser, daß es für heute genug
war. Schritt für Schritt watete er zum Ufer zurück. Direkt
vor Hawkeye blieb er kurz stehen, sah ihm
wortlos in die Augen...und war mit dem nächsten langen
Schritt an ihm vorbei.
Deutlicher ging es nicht. Hawk wollte
etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders. Stattdessen sah er
schweigend zu, wie B.J. barfuß über den
groben Kies zu seinen Turnschuhen stelzte, ganz vorsichtig,
wie auf Eiern. Am Felsen angekommen legte
er die Angel ab und setzte sich, um die Hosenbeine
herunterzulassen. Obwohl seine Füße noch
naß waren, zog er Socken und Schuhe an, und Hawkeye
kam es vor, als mache sein Freund aus dem
Binden der Schnürsenkel einen wahren Staatsakt. "Beej..."
"Hawk, ich hatte durchaus meine
Gründe, allein herzukommen!" Betonung auf dem *allein*.
"Sicherlich. Jeder hat seine Gründe.
Du, ich... Weißt du eigentlich, was für eine enorme Strecke die
Frauen laufen müssen, die unsere ganze
Dreckwäsche waschen?" Er schüttelte den Kopf und vermied
es bewußt, B.J. anzusehen. Der Tanz der
Libellen war auch interessant. Libellen...die kleinen
Hubschrauber der Natur. Zarte Geschöpfe,
die zu den gierigsten Räubern im Insektenreich gehörten. In
ihren segmentierten Flügeln fingen sich
die letzten Sonnenstrahlen des Tages, wie sie im Tiefflug über
das Wasser flitzten, hin und her,
geschäftig wie ihre Ebenbilder aus Metall, Rettungsengel für so
manchen Soldaten. Besser, er verzichtete
B.J. gegenüber auf diesen Vergleich. "Wir sollten ihnen
vielleicht etwas mehr bezahlen...eine
Kilometerzulage, oder so."
B.J. seufzte. "Wenn du versprichst,
den Mund zu halten, nehm' ich dich mit zurück. Was mich
zurückführt zu meiner Frage: warum zu
Fuß?"
"Rizzo hat keinen Jeep
rausgerückt", log Hawkeye mit einem halbherzigen Achselzucken. "Und
du hast
meine Frage auch nicht beantwortet.
Erfolg gehabt?"
Darauf antwortete B.J. weder mit einem Ja
noch mit einem Nein. "Nur beim Angeln", meinte er
ausweichend. "Offenbar mögen die
koreanischen Fische den Blinker, den du mir gegeben hast."
"Er gehörte Henry Blake, Marke
Eigenbau. Außer dir kenne ich sonst niemanden, der angelt – so findet
er wenigstens Verwendung. Sinngemäße
Verwendung. Du glaubst gar nicht, wie man Angelhaken
zweckentfremden kann..."
"Hu-hm."
Neuer Versuch, andere Taktik.
"Außerdem wollte ich dich zum Kino einladen. Sie zeigen heute abend
'Montana'. Mit Errol Flynn und James
Brown."
Das zumindest entlockte B.J. ein
kurzlebiges Lachen. Warum war er nicht überrascht? Diese Bestellung
hatten sie zweifelsohne Sherman Potter zu
verdanken. In den bald zwei Jahren hier hatte er schon mehr
Western gesehen als in seinem ganzen
vorherigen Leben. "Nichts mit Marilyn Monroe?" Ganz konnte er
sich die Stichelei nicht verkneifen.
"Bleib' mir weg mit der
Monroe!" Für Hawkeye würde der Name mit Sicherheit noch für einige Zeit
ein
rotes Tuch sein. Nur allzu knapp hatten
er und Charles ihre Hälse aus der Schlinge ziehen können,
Klinger und 20th Century Fox-Telefonistin
Madge sei Dank! "Also, kommst du mit? Ich spendier' auch
das Popcorn", erhöhte er sein
Angebot. "Es sei denn, du gehst lieber mit deinen Forellen aus."
Wie immer, wenn Hawkeye diesen beleidigten
Kleinjungenton anschlug, konnte B.J. nicht anders als
reagieren. Bei seinem Nein blieb er
trotzdem. "Danke, Hawk, aber nein. Mir ist nicht nach Kino. Oder
Popcorn. Um die Wahrheit zu sagen, ist
mir eigentlich nach gar nichts."
"Oh", machte Hawkeye und hob
die Hände. "Ich will mich weiß Gott nicht aufdrängen."
"Das richtige Wort, aber der falsche
Gedanke." Warum mußte Hawk es ihm auch immer so schwer
machen? Schwerer als schwer sogar. Jeder
gab sich früher oder später geschlagen. Auf seine eigene
Art und Weise war Hawkeye genauso
hartnäckig wie die Nordkoreaner mit ihrer Artillerie. "Hawk...ich
bin noch nicht bereit."
"Beej, ich kenne dich schon zu gut.
Wenn diese Sache erst einmal einsickert und sich bei dir festsetzt,
werden wir niemals darüber reden. Und
doch wird sie immer spürbar sein, in allem, was du sagst und
tust." Bewußt schlug er einen
verständnisvollen Ton an, obwohl er ihn am liebsten gepackt und
geschüttelt hätte. "Du frißt alles
in dich hinein", stellte er fest und war überrascht, als ein trockenes
Lachen ertönte, das B.J. mit Sicherheit
nicht hatte rauslassen wollen. "Was?"
"Du hattest schon zu viele Sitzungen
mit Sid. Du klingst schon fast wie er. Und, um ehrlich zu sein,
bevorzuge ich das Original."
Normalerweise wenn Beej diese
"Phasen" hatte und einfach alles anzweifelte, von seinem Können als
Arzt bis hin zu seiner Rolle als
Mann-im-Haus-und-Familienvater, in der er mangels Anwesenheit seit
fast zwei Jahren versagte, war das beste
Rezept, die Zähne zusammenzubeißen und ihn reden zu lassen.
Irgendwann würde er sich wieder
beruhigen. B.J. mußte nur Dampf ablassen, ab und an das
Überdruckventil öffnen. Und Hawk hörte
geduldig zu, half hinterher mit, die Scherben aufzufegen,
seien sie emotionaler Natur oder real.
Diese "Phase" war beunruhigend
anders. B.J. redete nicht.
"Hab' ich dir was getan, Beej?"
So oft wie sie sich gegenseitig mißverstanden, wäre das wenig
verwunderlich.
"Nein."
"Warum behandelst du mich dann
so?"
"Hawk, hörst du bitte auf? Du hast absolut
nichts getan. Nicht du. Ich. Ich habe etwas getan.
Beziehungsweise nicht getan."
"Dann red' mit mir darüber!
Bitte!"
"Tust du das denn?" kam B.J.s
leise Gegenfrage. "Tust du das je?" Er wandte den Kopf und begegnete
dem irritierten Blick mit einem
Gesichtsausdruck, der so starr und unnatürlich war wie eine Maske. "Du
vertraust mir nicht, Hawkeye." Es
war eine simple Aussage, aber jedes der Worte wog eine Tonne und
hatte die Durchschlagkraft einer Granate.
"Du hast mir nichts erzählt von der OP deines Vaters, erst
hinterher, als alles vorbei war...oder
auch nur von irgend etwas Persönlicherem als deinen amourösen
Abenteuern hier im Camp. Deine
Eingeständnisse nach dem Tod von Milly neulich waren...ich weiß
nicht, wie ich das beschreiben soll.
Völlig neu, völlig unerwartet. Zum ersten Mal wirklich...ehrlich",
brachte er die Sache auf den Punkt.
"Vielleicht brauchtest du diese Erfahrung. Vielleicht..." In Hawks
Augen kam etwas in Bewegung, er
registrierte die dahinterliegenden Gefühle und war dankbar, daß er
ohne Unterbrechung fortfahren durfte.
"Nun, vielleicht hilft es dir, dich dem Rest der Welt etwas mehr
zu öffnen, nicht ganz so unnahbar
wie...der Boxer im Ring zu sein. Weniger defensiv. Du willst jeden
bei Laune halten, lachst und scherzt,
aber du gibst *nie* etwas von dir preis...jedenfalls nichts
*wirklich* Privates."
"Während du dein Herz offen auf dem
Ärmel trägst?" Hawks Stimme bekam etwas Ätzendes. "Darf ich
dich in den Schützengraben der Realität zurückholen?
B.J. Hunnicut, der alle Welt an seinem Leben
teilhaben läßt, ob man will oder nicht.
B.J., der Mann, der Heimweh und Selbstmitleid gepachtet hat?
B.J., der Mann, der sich Sorgen um die
banalsten Vorgänge in Mill Valley macht, die nicht mal
Eisenhowers Hund interessieren? B.J., der
für eine verstopfte Regenrinne glatt desertieren würde, weil
er befürchtet, daß seine Ehe dadurch
kaputtgehen könnte?" Er lachte spöttisch...und bereute es im
nächsten
Moment auch schon. Welches Recht hatte er, B.J. seine Prioritäten vorzuwerfen?
Es war schon
seltsam,
egal wie sehr B.J. ihn zur Weißglut brachte, wirklich böse sein konnte er ihm
nie. Immer häufiger
fragte
er sich, weshalb. Vielleicht weil ein kleiner Teil von ihm B.J. um
diese...Allerweltsprobleme
beneidete.
Gerne würde er seine Sorgen gegen eine verstopfte Regenrinne oder ein Loch im
Gartenzaun
eintauschen.
Und gleichzeitig gab es ihm Hoffnung. Solange sich B.J. über solche trivialen
Dinge aufregen
konnte,
hatte dieser Ort, diese Vorhölle, noch nicht gewonnen. Bislang
hatte es ihn immer beruhigt, daß
B.J.
dem Elend hier widerstehen konnte, Peg, Rumkeksen und Mill Valley sei Dank.
Umso schmerzhafter waren dann die
Momente, wenn B.J.s Sorgen den seinen zu sehr ähnelten. Oder
sie, wie in diesem Fall, noch übertrafen.
"Tut mir leid", entschuldigte
er sich, "das war nicht so gemeint. Ich...weiß auch nicht..."
"Schon gut."
Hawkeye ließ sich neben seinem Freund auf
den Felsen sinken, vermied es aber, dem Impuls
nachzugeben und ihm den Arm um die
Schultern zu legen...oder ihn auf irgendeine Weise zu berühren.
Im Gesicht des jüngeren Arztes zeigte
sich keine Gefühlsregung. Wenn er so weitermachte, hatte er
ernsthafte Chancen, als nächstes die
Felswand von Mount Rushmore zu zieren. "Beej, ich finde, ich
habe hier bereits genug erlebt, um meinen
Teil zur Unterhaltung beizutragen. Muß ich etwa exakt die
selbe Erfahrung selbst machen, um mit dir
reden zu können?"
"Nein. Nein, natürlich nicht",
räumte B.J. ein. "Um Gotteswillen, das ist das letzte, was du tun sollst.
Ab
und an würde ich es sogar begrüßen, wenn
du etwas weniger *tun* würdest."
Hawkeye blinzelte verwirrt. "Was
soll das heißen?"
"Das, was es heißt. Du tust mir alle
Gefallen der Welt, Hawkeye...wann immer es mir schlecht geht,
tust du irgend etwas...Verrücktes... Die
Party, die ohne dich nur ein weiteres Hirngespinst geblieben
wäre. Pegs Video zu unserem Hochzeitstag.
Kleine Gesten hier und da. Du...du läßt mich jedes Mal
spüren, daß ich nicht halb so viel über
dich weiß wie du über mich. Und dieses Wenige treibt mich
längst nicht zu solch verrückten
Aktionen, wie du sie alle paar Monate abziehst." B.J. begann, mit dem
Goldring an seiner linken Hand zu
spielen. Er trug ihn nicht oft. Eheringe behinderten beim Operieren
und so hatte er ihn normalerweise in
seiner Feldkiste eingeschlossen. Wertsachen gingen nämlich im
Waschraum trotz aller Vorsichtsmaßnahmen
gerne mal verloren. Und ihre Arbeitszeiten waren einfach
zu unregelmäßig, das ständige An- und
Ablegen hätte irgendwann zum Verlust geführt. Also schloß er
ihn lieber ganz weg, machte ihn zu einem
weiteren Symptom der niemals vollständigen Trennung
zwischen Dort und Hier und steckte ihn
nur an, wenn er sich absolut sicher sein konnte, daß er nicht in
den OP gerufen würde.
Oder wenn es ihm einfach ein Bedürfnis
war.
„Du gibst mir allerdings kaum
Ansatzpunkte, Hawk. Eigentlich gar keine. Jedenfalls keine, die ich dir
nicht aus der Nase ziehen muß." Im
schwindenden Licht war Hawkeye lediglich ein Umriß mit Silber an
den Schläfen, wie mit einem Pinsel
aufgetupft. Hier waren sie alle nur Umrisse, alles war nur
angedeutet...alles, bis auf das Blut. Und
die Entscheidungen, zu denen man manchmal gezwungen
wurde.
"Weißt du, wenn ich ein Problem
habe, bevorzuge ich das Alleinsein. Und du auch...nur daß du dabei
gerne Gesellschaft hast. Je zahlreicher,
desto besser. Und dann redest du wie ein Wasserfall. Sogar
doppelt so viel an den ruhigeren Tagen.
Über alles Mögliche und sei es noch so banal. Nur...die
wichtigen Dinge läßt du nicht raus. Du
behältst deinen ganzen Schmerz für dich, fast als wäre es das
Einzige, was du hast, das einzige Gefühl,
das dir etwas bedeutet. Und deshalb willst du niemandem was
davon abgeben." Als er Hawkeye ansah,
las er auf dessen Gesicht eine Mischung aus Erstaunen und
etwas, das Entsetzen ähnelte.
"Niemand darf Hawkeye Pierce zu nahe kommen. "
Wie wohl Hawkeye heute wäre, wenn ihm
Korea erspart geblieben wäre...manchmal konnte er es klar
sehen. In jener anderen Realität stand
ein idealistischer junger Chirurg in einem modernen OP und
arbeitete so langsam und sorgfältig, wie
er es gelernt hatte. Nichts war zu hören außer dem Zischen des
Beatmungsgerätes und dem Beep-Beep des
Herzmonitors. Ein Routineeingriff, jeder Handgriff saß, sie
waren ein eingespieltes Team. Abgesehen
von den ruhigen, freundlichen Instruktionen des Chirurgen
würde sich die Unterhaltung der Ärzte und
Schwestern um Football, Familie oder das neueröffnete
Restaurant drehen.
Nachmittags würde der junge Arzt Visite
machen und ein Auge auf bestimmte Patienten in ihren hellen,
sauberen Zimmern werfen. Nichts hielt ihn
davon ab, jedem von ihnen die nötige Aufmerksamkeit zu
schenken, bevor er sich anschließend in
seinem Büro den Fachzeitschriften widmete.
Natürlich hatte er auch genug Freizeit,
um für diese Zeitschriften Aufsätze zu schreiben und Forschung
zu betreiben, die irgendwo auf der Welt
ein Leben rettete, ein Leiden linderte.
Wenn er dann abends in einem Restaurant
saß oder sich in seiner Wohnung selbst etwas kochte, würde
er dazu bestenfalls ein, zwei Gläser
guten Wein trinken, oder auch ein Bier. Nicht mehr.
Und wenn er träumte, würden diese Träume
erfüllt sein von Stille. Stille. Vielleicht von den Stimmen
von Freunden und Verwandten, ihrem Lachen
und Glück, aber sonst nichts. Kein Platz für Schreie,
Schmerz und Tränen.
Aufwachen würde er nicht zum brutalen
Stakkato von Rotorblättern, sondern zu Vogelgezwitscher.
In dieser Realität wären sie sich
vielleicht ähnlicher, könnten einen Zugang zueinander finden, ohne sich
durch Schweigen zu sehr zu verletzen.
"Ich hab' mich oft nach dem Grund
gefragt. Vielleicht, so sagte ich mir, weil wir einfach gewisse Dinge
zu unterschiedlich bewerten, ihnen andere
Bedeutungen beimessen. Oder weil wir zu verschieden sind.
Du...du...ach, du hast mit jedem geredet,
nur nicht mit mir. Klinger, Potter, der Padre...sogar *Charles*
- sie alle wissen mehr über dich, deine
Vergangenheit, deine Hoffnungen und Träume als ich. Du läßt
lieber Sidney aus Seoul anreisen, wenn du
jemanden zum Reden brauchst, als daß du es mit mir
versuchst. Deinem Freund, mit dem du seit
anderthalb Jahren auf engstem Raum zusammenlebst.
Nein", berichtigte er sich,
"zusammen ist das falsche Wort. Wir leben nebeneinander her, tagein
tagaus."
Wenn er ehrlich war, würden Hawkeye und
er sich in jener anderen Realität wohl nie begegnen.
Und außerdem gab es diese Realität nicht,
nicht für sie und auch für niemanden sonst.
Schweigend saßen sie eine Zeitlang nebeneinander
und blickten aufs Wasser. Man konnte sich so leicht
in den Wirbeln verlieren, die so
unberechenbar und ständig in Bewegung waren. Genau wie das Leben.
"Was meinst du, Beej, wann haben wir
aufgehört zu reden?"
"Carlye", antwortete B.J.
bestimmt. "Danach...habe ich zwar geredet, aber es kam nichts zurück.
Zumindest nichts von der Sorte, die ich
gebraucht hätte."
Hawkeye glaubte zu verstehen. Seltsam, daß er das Problem nicht schon viel früher angesprochen
hatte; es war doch eigentlich offensichtlich gewesen. "Hast du deshalb nicht gewollt, daß ich deine
Hand behandele, als der Autoklav in die Luft flog? Weil du mir nicht genug vertraust? Weil du glaubtest,
ich würde dir nicht genug vertrauen?" Er betete, daß die Antwort nicht Ja lautete.
Und glücklicherweise schüttelte B.J. den
Kopf, sehr langsam, als hinge von der Antwort das Ende
dieses Krieges ab. "Nein", gab
er zu, "es war...na ja, man könnte es wohl eine Trotzreaktion nennen.
Die Lage war schon zu verfahren...hatte
sich einfach schon zu lange zugespitzt, die letzte Ausfahrt
hatten wir längst verpaßt...und, um
ehrlich zu sein, wir haben beide unseren Teil dazu beigetragen."
"Ja." Dem konnte Hawkeye nicht
widersprechen. "Das haben wir wohl." Auf der anderen Flußseite
landete mit majestätischen Flügelschlägen
ein Reiher im Wipfel einer Weide, wo er sein Nest hatte.
Trautes Heim, ab ins Bett und Gute Nacht.
Ob der Vogel eine Ahnung von dem Irrsinn hatte, der sich
seit gut drei Jahren in seinem Lebensraum
abspielte? Dann schweifte sein Blick weiter, über die
zerklüfteten Hänge der Bergkette, wo nur
noch ein dünner Streifen Purpur die rauhe Silhouette
umrahmte, die in Kürze mit dem Himmel
verschwimmen würde. Irgendwo da oben, unsichtbar und
heute gnädigerweise schweigend, befand
sich die Artillerie der NKPA. Schon morgen könnte das
wieder anders sein. Gerne würde er
vorschlagen, daß sie einen Neuanfang machen könnten, nur wußte
er nicht, wie das möglich sein sollte –
welche Worte würden die nötige, *gemeinsame* Basis bilden, die
Kluft überbrücken? Ratlos rieb er sich
die Hände und kratzte den Schorf von einem heilenden
Moskitostich am Unterarm. "Weißt du,
Beej, die Ratten im Sumpf haben sich bei mir über die nächtliche
Lärmbelästigung beschwert. Ständig
quietschendes Feldbett...und so weiter..."
"Ich kann nicht schlafen."
"Hab' ich schon gemerkt.
Hauptsächlich, weil ich gleich nebenan wohne." Alpträume waren ihm nicht
fremd. Sie hielten einen wach, damit man
den größeren Alptraum richtig auskosten und umso intensiver
hassen konnte. Jetzt galt es nur, B.J.
die Details zu entlocken, das Drehbuch zum Trauerspiel. Das hieß,
wenn B.J. es zuließ.
Das tat er, nach einem weiteren Moment
des Zögerns. "Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, bin ich
wieder in dem Helikopter und schaue nach
unten. Und da steht er, eine notdürftige Aderpresse ums
rechte Bein...er kann sich kaum aufrecht
halten, versucht vergeblich, das Seil festzuhalten.
Aber...aber...er rutscht immer wieder
ab", seine Stimme wurde leiser, drohte zu stocken, "weil er schon
zu schwach ist. Oder weil seine Hände
glitschig sind von seinem Blut. Oder beides. Und als er sich
schließlich das Seil umgebunden hat,
werden wir beschossen...müssen abhauen...oder ebenfalls
draufgehen." Mit jedem Satz fielen
ihm die Worte leichter, ließ sich der Horror besser beschreiben. "Der
Pilot, der eben noch sagte, daß wir den
Mann zur nächsten Lichtung schleppen würden, wo er landen
und ich ihn behandeln könnte, sagt nun,
daß ich das Seil durchschneiden soll. Einfach so. Daß ich mein
Taschenmesser nehmen und ihn losschneiden
soll wie ein lebloses Stück Ballast. Aber das ist er nicht.
Das ist er nicht." Unwillens Hawkeye
die Gefühle sehen zu lassen, die er nicht mehr verbergen konnte,
stützte B.J. den Kopf in die Hände,
preßte sich die geballten Fäuste an die Schläfen und versuchte,
durch den Druck die aufsteigende Übelkeit
zurückzuhalten. "Aber ich tue es. Wir fliegen tief genug, daß
ich sein Gesicht sehen kann, als er zu
Boden fällt. Der Pilot zieht die Maschine hoch und fünf Minuten
später sind wir im Camp."
"Ihr wart schwer zu übersehen mit
der Rauchfahne, die ihr hinter euch hergezogen habt.
Himmelsschreiber von Korea." Daß
B.J.s Mundwinkel kurz zuckten, hielt er für ein gutes Zeichen. "Du
kannst von Glück sagen, daß ihr es zurück
geschafft habt."
"Nur ist mir, als wäre ich nie
gelandet."
Normalerweise war B.J. derjenige, der mit
Logik kam, wenn Hawkeye ein Problem hatte und in
Endscheidungsnot war, die Stimme der
Vernunft, wenn er eigentlich einen Freund brauchte, der
hundertprozentig hinter ihm stand, egal
wie verrückt, unvernünftig und Aus-dem-Bauch-heraus seine
Entscheidung letztendlich war. Ein
Freund, der nicht nach dem Wenn und Aber fragte. Aber B.J. war
nicht so. Könnte es gar nicht sein. B.J.
holte ihn immer auf den Teppich zurück und ließ ihn sicher
landen.
Jetzt war es an ihm, den Gefallen zu
erwidern.
Allerdings...ob er es konnte?
"Red' weiter, Beej. Ich höre
zu."
"Und dann ist da dieses Gefühl...ich
hatte es schon öfters, wenn ich mich schlecht oder einsam
fühle...aber es war nie so deutlich wie
jetzt. Es ist..." Seine Schuhe schienen interessanter als alles
andere, wie er nun die Arme um sich
schlang als wolle er vermeiden, daß er an den Bruchstellen
auseinanderfiel. Oder weil es sonst
niemand für ihn tat.
Er löste eine Hand und griff – nach ihm,
dachte Hawkeye zuerst, aber die wenigen Zentimeter waren
offenbar wenige Zentimeter zuviel – in
die Luft, nach einem Seil, das nicht da war. Die Finger
schlossen sich um Luft.
Als könnte er die Worte, die er brauchte,
um seine Gefühle auszudrücken, aus dem Nichts greifen.
Schließlich stand er auf und begann, auf
und ab zu gehen. Immer nur drei Schritte. Nach links...nach
rechts...nach links... Die ganze Ruhe,
die er beim Angeln ausgestrahlt hatte, war restlos verpufft.
"Es ist als würde ich fallen, aus
sehr großer Höhe. Wie etwa aus einem Helikopter. Ohne Fallschirm.
Und kein rettendes Seil in Reichweite.
Ich falle und falle, der Boden kommt immer näher, unaufhaltsam,
und ich weiß genau, daß der Aufprall mich
umbringen wird. Die Landschaft kommt mir bekannt vor.
Es ist Korea. Korea mit all seinen
Bombenkratern und Schützengräben. Und ich falle immer
schneller...bevor das Ende kommt,
verliere ich das Bewußtsein." Damit brach er ab und scharrte mit
dem Fuß im Kies.
Hawkeye schluckte. Wie oft hatte er sich
schon so gefühlt. Ungefähr jedes Mal, wenn er todmüde auf
sein Feldbett fiel, das Gesicht im
Kopfkissen vergrub und schweigend um traumlosen Schlaf betete.
"Dann lasse ich dich hiermit wissen,
daß ich dasein werde, um dich aufzufangen." Es war natürlich
keine passende Entschuldigung, aber mehr
konnte er einfach nicht sagen. Er tat sich mit den Worten
ebenso schwer wie B.J. und das fand er
beunruhigender als die bestehenden Spannungen zwischen
ihnen, denn wenn er sein Leben lang auf
etwas stolz gewesen war, dann auf seine Redegewandtheit.
Vermutlich gab es in jedem Krieg
irgendwann den Moment, ab dem einem die Worte ausgingen, das
Vokabular erschöpft war. Und niemand
hatte noch die Kraft, neue Worte zu erfinden.
Aber das war auch gar nicht nötig. Die
Tatsache, daß B.J. sich wieder neben ihn setzte, war Zeichen
genug, daß die Entschuldigung angenommen
war. Die Hand auf seiner Schulter war ein willkommener
Bonus.
"Danke. Ich glaube dir." Der
Begeisterungssturm blieb allerdings aus. "Weißt du, nach allem, was ich
schon in den ersten Monaten hier erleben
durfte, dachte ich irgendwann, es könne nicht mehr
schlimmer kommen. Der Mensch gewöhnt sich
an alles und *das*, mein Freund, ist die wahre
Katastrophe. Ich meine...Operieren im
Marathonstil, schlaflose Nächte bei minus dreißig Grad und
Beschuß durch die eigene Artillerie, das
ist doch ein Pappenstiel. Bis zur Hüfte in Blut und Eingeweiden
zu stehen, hey, was soll daran schlimm
sein? Man muß es nur oft genug machen, dann ist's halb so
wild. Und zusehen müssen, wie die Leute,
die einem ans Herz gewachsen sind, langsam aber sicher
kaputtgehen und man nichts dagegen tun
kann? Alles Gewöhnungssache. Der Zwischenfall letzte
Woche war...unerwartet."
"Es tut mir ehrlich leid,
Beej."
"Mir auch, Hawk. Ich wünschte
nur...ich wünschte mir, es wäre anders gelaufen."
Taten sie das nicht alle und sogar
tagtäglich? Oder noch häufiger? "Du kannst an dem, was passiert ist,
nichts ändern. Du wirst eine Handlung –
eine *notwendige* Handlung", betonte er, "nicht ungeschehen
machen, indem du jegliche Verbindung zu
uns ebenfalls abschneidest. Vielleicht kannst du es eines
Tages vergessen, wenn du es nur verzweifelt
genug willst und mit der gleichen Hartnäckigkeit
verfolgst, mit der du im Augenblick die
Person zu zerstören versuchst, zu der du geworden bist."
"Ich hasse diese Person. Mich",
sprach B.J. endlich das aus, was ihm auf der Seele lastete. Bislang
hatte er das Gefühl nur nicht so direkt
benennen können. "Ich hätte genauso gut eine Waffe abfeuern,
ihm kaltblütig eine Kugel in den Kopf
jagen können."
"Hast du aber nicht."
"Zumindest wäre das klar und
deutlich gewesen. So habe ich das Nächstschlimmere getan...ihn seinem
Schicksal überlassen."
"Du hattest Angst."
B.J. gab ein verächtliches Schnaufen von
sich. "Das haben die Soldaten bei No-Gun-Ri auch gesagt.
Sag' mir, Hawkeye, in wie weit bin ich
denn besser als sie?" Jetzt wo er die Wut zugelassen hatte, klang
es, als wollten die Tränen folgen.
"Sag's mir, Hawk. Ist es etwa besser, nur einen Mann zu töten als
vierhundert? Es ist ja soviel einfacher,
im OP über Leben und Tod zu herrschen als in einem
Kampfgebiet, wo die Kugeln fliegen. Im OP
haben wir den Heimvorteil..."
"Was ist mit der Triage? Da müssen
wir auch entscheiden, wer überlebt und wer nicht." Ein schwaches
Argument, das war ihm klar, und er wußte,
daß B.J. es nicht gelten lassen würde, aber es war das
einzige, das er hatte.
Erwartungsgemäß wurde der Einwand
abgeblockt. "Das ist nicht dasselbe. Bei weitem nicht. Sieh mich
an, Hawk, sieh mein Gesicht an, meine
Augen! Und dann wirf einen Blick in die Gegend. Verflucht",
sein Einatmen war vielmehr ein Keuchen,
so sehr kämpfte er um seine Fassung, "einerseits diese
Landschaft, diese Stille, in der man
völlig versinken kann...die einen verschlingt...doch bevor man sich
versieht, ist's mit der Stille vorbei und
es fliegen wieder Kugeln und Granaten. Geschosse, die
menschliches Leben im Zehnerpack
auslöschen, junge Menschen auf Lebzeiten verstümmeln. Bislang
bin ich mit diesem ständigen Wechselbad
weitgehend klargekommen. Nur..." Abermals unterbrach er
sich, um mühsam Luft zu holen, sich zu
sammeln. "Jetzt bin ich wohl ausgelaugt und der Krieg hat
mich endlich eingeholt. Von einem zum
anderen Moment bin ich ein anderer Mensch geworden, der nur
noch so aussieht wie ich. Und ich frage
mich, ob Peg mich wieder-...wiedererk-k-kennen w-wird..."
Die Tränen waren stärker, B.J. gab sich
geschlagen und brach ab. Ellbogen auf den Knien saß er mit
hängenden Schultern da und vergrub das
Gesicht in den Händen.
Doch darauf gab es keine Antwort und alle
Skalpelle in Korea reichten nicht aus, um eine passende
zurechtzuschneidern. "Beej. Du hast
schon so viele Leben gerettet. Und nun dein eigenes. Ein einziges
Mal hast du an dich selbst zuerst
gedacht. Niemand macht dir einen Vorwurf."
"Den Vorwurf mache *ich* mir! Ich
und der Mann, den ich zum Tod verurteilt habe. Ich habe ihn
umgebracht, Hawkeye. Und hier der Ironie
noch nicht genug: sie geben mir sogar noch einen
verfluchten Bronzestern dafür!" Er
hatte nicht genug Tränen und nicht genug Stimme in sich, um
seinem Zorn darüber Ausdruck zu verleihen,
ein weiterer Grund, weshalb er die Einsamkeit am Fluß
gesucht hatte. Die Stille hier war seine
einzige Alternative.
"Du hast zwei Leben gerettet. Das
des Piloten und dein eigenes", hielt Hawkeye dagegen. "Und ich bin
froh, daß du dich so entschieden hast.
Ich habe hier schon einen Freund sterben sehen und weitere
verloren, wie du weißt." Auf Trapper
im Speziellen ging er jetzt nicht ein. In Momenten wie diesen
vermißte er ihn wie einen amputierten
Arm. Oder ein herausgeschnittenes Herz. Mit Trapper zu reden
hatte niemals so viele Worte erfordert,
ihre Sprache war eine andere gewesen. Doch nach
zweiundzwanzig Monaten hatte er sie schon
fast verlernt. "Ich hätte es nicht ertragen, dich ebenfalls zu
verlieren. Verstehst du das?"
Dem Nicken, mit dem B.J. antwortete,
mangelte es an Überzeugung.
"Außerdem, wenn du den Orden nicht
aus freien Stücken weitergegeben hättest, hätte ich dafür
gesorgt, daß er dein Erscheinungsbild
nicht ruiniert. Klinger würde mir zustimmen, Bronze beißt sich
mit rosa Hemd und roten
Hosenträgern."
Das Lächeln war schwach, aber sichtbar.
"Du hättest ihn gemopst und einem anderen gegeben?"
"Oder gemopst und eingeschmolzen.
'Nen neuen Fischköder draus gemacht."
"An den Anblick eines Soldaten im
Spiegel werde ich mich nie gewöhnen."
"Man muß aber schon sehr genau
hinsehen, um ihn zu erkennen."
"Das macht die Dunkelheit. Bei Nacht
sind bekanntlich alle Katzen grau."
"Beej, du stellst dich als ein
Monster dar, das du nicht bist."
"Ach, wirklich?" Das Lächeln hielt
sich trotz der Tränen, die ungehindert über B.J.s Gesicht liefen.
"Wirklich, Beej. Bitte glaub'
mir." Der Krieg schleppte sich nun seinem vierten Jahr entgegen und
offenbar erreichten sie die Grenzen ihrer
Belastbarkeit, Veränderungen waren unvermeidlich. Für seine
eigene Person konnte Hawkeye sagen, daß
wenn er dem Benjamin Franklin Pierce, der im Oktober 1950
Crabapple Cove verlassen hatte, auf der
Straße begegnen würde, er ihn nicht wiedererkennen würde.
Und sein neues Ich kratzte und zwackte an
allen Stellen wie ein schlechtsitzender Anzug. Manchmal
befürchtete er ebenfalls, sich seinem
Vater neu vorstellen zu müssen, wenn er nach Hause kam.
"Ich könnte unseren Gehirnklempner
für dich anrufen. Dann kannst du ihm auch einmal was erzählen.
Er würde sich über die Abwechslung
freuen. Und schmal wie er ist, seine Schultern sind trotzdem breit
genug, daß sich die ganze 8th Army
anlehnen könnte."
Doch ein schniefender B.J. winkte ab.
"Nicht nötig. Sid soll bleiben, wo er ist. Ich sagte dir bereits,
alles was ich brauche, ist etwas Zeit.
Etwas Abstand. Abstand beim Angeln mit Henry Blakes Köder."
"Auf welcher Wolke lebst du denn?
Hier bekommt man so was nicht. Dies ist Korea. Abstand ist
Luxus." Hawkeye beugte sich vor und
pickte einen Kiesel vom Boden auf, fing an, ihn von einer Hand
in die andere zu werfen und zwischen den
Fingern zu drehen. Da sollte man denken, ein MASH-Chirurg
wäre dankbar, seine wichtigsten Werkzeuge
mal ausruhen zu dürfen, aber er konnte die Finger einfach
nicht ruhig halten.
"Glaubst du, ich fühle mich auch nur
einen Deut besser als du? Und ich tue das bereits ein Jahr länger.
Um auf Henry zurückzukommen... Da ist
etwas, das er mir mal gesagt hat, als ich auf meinem
Tiefpunkt angekommen war und dachte, daß
mein nächster Atemzug mein letzter sein würde. Alles in
mir drin tat so furchtbar weh. Das war,
als ich meinen Freund habe sterben sehen. Tommy. Ich kannte
ihn seit der fünften Klasse, er lag auf
meinem OP-Tisch, und ich konnte ihn nicht retten."
Die Botschaft drang allmählich zu B.J.
durch und er nickte.
"Und Henry sagte, im Krieg gäbe es
zwei Regeln. Regel Nummer Eins besagt, daß junge Männer
sterben...und Regel Nummer Zwei, daß
Ärzte an Regel Nummer Eins nichts ändern können. Nun", er
zuckte mit den Schultern und warf den
Kiesel in hohem Bogen ins Wasser, "ich habe seitdem eine dritte
Regel hinzugefügt. Man muß sich früher
oder später der Person stellen, zu der man durch Regeln Eins
und Zwei wird, denn man kann nicht wieder
zu demjenigen werden, der man vorher war. Da ist kein
'früheres Ich', das irgendwo auf einen
wartet. Für dich und mich gibt es nur die Zukunft und die
Gesichter, die wir für den Rest unseres
Lebens tragen werden."
"Henry war schon ein weiser
Mann."
"Sag' das bloß nicht zu laut, sonst
kommt er auf die Idee, zurückzukommen und uns mit noch mehr
Weisheiten zu erfreuen."
"Konnte er was mit Orden anfangen?
Oder hätte er die auch eingeschmolzen?"
"Womit, glaubst du, hast du die
Forellen gefangen?" Beide mußten sie lachen. Es tat unbeschreiblich
gut. "Auf jeden Fall", beschloß
er seine Rede, "bist du immer noch Arzt. Ein verdammt guter Arzt. All
die Male, wo du ins kalte Wasser
gesprungen bist und eine Behandlungsmethode ausprobiert hast, die
du nie selbst gesehen, sondern über die
du nur am Vortag in einer Zeitschrift einen Bericht gelesen
hattest... Du hast in knapp zwei Jahren
mehr Mut gezeigt als fünf Ärzte in ihrem ganzen Leben. Beej",
er senkte seine Stimme zum
Fast-Flüsterton, "du willst, daß ich mit dir rede? Okay, ich rede. Ich
möchte dir eine wichtige Sache sagen,
also hör' genau zu. Du bist ein Fels für mich. Um mich aus
Father Mulcahys Vokabular zu bedienen: du
bist mein Petrus. Wenn ich nicht rede, dann ist es, weil ich
mich schon viel zu sehr auf dich stütze.
Tag für Tag. Ohne daß du es merkst."
B.J. brummte kurz, weder in Zustimmung
noch Ablehnung. "Ich dachte immer, es wäre umgekehrt..."
"Sagen wir 40-60. Ich beanspruche
den niedrigeren Wert. Du hinkst viel öfter."
"Tatsache?" Mit einem hilfeheischenden
Blick gen Himmel rappelte sich B.J. ebenfalls auf und streckte
mehreren Rumpfbeugen seine verspannten
Muskeln. Das lange Stehen im kalten Wasser hatte ihm
Schmerzen an Stellen beschert, die sich
sonst nur nach 48 Stunden Nonstop-OP meldeten. "Oh, ich
hätte auf meinen Schwiegervater hören und
doch lieber Tiermedizin studieren sollen", stöhnte er. "Aber
Peg erzählte mir immer haarsträubende
Geschichten von Patienten ihres Vaters, wo nicht nur das Tier
behandelt werden mußte, sondern das exzentrische
Herrchen gleich mit dazu. Doppelbelastung, nichts
für mich. Außerdem reicht ein Tierarzt in
der Familie." Gemächlich schlenderten sie zurück bis zu der
Stelle, wo der Eimer mit den gefangenen
Forellen stand.
"Dir würde ich meinen Hund jeden Tag
anvertrauen. Die Katze auch. Und den Wellensittich...samt dem
Herrchen, der sich dringend den Sprung in
seinem Lieblingsglöckchen kleben lassen muß", fügte
Hawkeye mit einem Fingerzeig auf seinen
Kopf hinzu und erschlug zwei Moskitos, die gerade seinen
rechten Arm attackierten. Verfluchte
Biester!
B.J. tippte sich an den Hut. "Danke,
du bist zu gütig, aber ich kenne kein Tier, das dich nur drei Tage
als Herrchen dulden würde."
"Die hier haben keine andere Wahl,
oder?" Er reichte B.J. den vollen Eimer. Und wurde eines Besseren
belehrt. Entgegen seiner Erwartungen ging
B.J. nicht in Richtung Jeep, sondern ein letztes Mal zum
Wasser hinüber, wo er das Behältnis
schwungvoll in den Fluß entleerte. Vier Forellen entkamen mit
einem lauten Platsch. Sein ungläubiger
Gesichtsausdruck wurde mit einem einseitigen Schulterzucken
quittiert.
"Sollen sie doch leben..." B.J.
schulterte die Angel und klapperte wie zur Betonung seiner guten Tat mit
dem leeren Eimer. "Wenigstens vier Leben,
die ich retten konnte."
Würde dieser Mann denn nie aufhören, ihn
zu überraschen?
Hawkeye legte einen Arm um ihn und führte
ihn die Böschung hinauf. Mittlerweile war die Sonne ganz
verschwunden, war durch die Sichel des
Neumondes ersetzt worden, und im schwachen Sternenlicht
sah er sich den neuen B.J. genauer an.
Besser gesagt, er sah sich selbst in ihm, erkannte den Teil seines
Ich, den er als irreparabel geschädigt
betrachtete. Und dementsprechend fürchtete.
Nun hatte es B.J. also auch erwischt.
Leider.
Wenn er einen Orden verdiente – sie alle,
wenn er es sich überlegte – dann das Purple Heart. Nur
schenkte die Army seelischen Wunden kaum
Beachtung, das Limit war ein Zehnerabo für die Couch
eines Therapeuten. Keine Medaillen,
nichts. Als zähle ein verlorenes Bein mehr als der Verlust eines
Teils der eigenen Identität.
"Komm', *Soldat*", meinte er
sanft, "ich fahr' dich nach Hause."
"Nach Hause?"
"Dein Heim ist, wo dein Herz
ist."
"Ich hab' mein Herz in San Francisco
gelassen", informierte ihn B.J. schläfrig, während er in den Jeep
kletterte und die Augen schloß.
"Da soll's auch bleiben. Aber bis du
es wieder in Empfang nehmen kannst, wie wär's, wenn du mich
auf den Rest aufpassen läßt?"
Schadensbegrenzung war seine Spezialität.
Ein müdes Nicken war alles, zu dem B.J.
noch fähig war. "Gut", murmelte er. "Danke, Hawk."
"Schon okay, *Doktor*."
FINIS